Der ehemalige Direktor des Altın Portakal Filmfestivals, Ahmet Boyacıoğlu, äußerte sich zu dem Dokumentarfilm „Kanun Hükmü“, der im vergangenen Jahr zensiert und aus dem Festivalprogramm genommen wurde. Das Altın Portakal Filmfestival, auch bekannt als das Antalya Golden Orange Film Festival, ist eines der bedeutendsten Filmfestivals in der Türkei und wird seit 1964 jährlich in Antalya veranstaltet.
Der Film thematisiert die Erlebnisse eines Lehrers und eines Arztes, die durch ein Dekret des Ausnahmezustands (KHK) aus ihren Berufen entlassen wurden. Boyacıoğlu sagte: „Wir haben es in die Geschichte geschafft, indem wir einen Film zensiert haben, ohne ihn zu sehen, und uns damit weltweit lächerlich gemacht. Der Name ‘Die drei Affen’ würde viel besser zu diesem Festival passen!“
Ahmet Boyacıoğlu erklärte in einem Interview mit Candan Yıldız von T24, dass sowohl der Dokumentarfilm als auch das Altın Portakal Festival ein Opfer der Politik wurden.
CHP-Bürgermeister Muhittin Böcek verantwortlich gemacht
Boyacıoğlu machte den CHP-Bürgermeister von Antalya, Muhittin Böcek, für die Zensur des Dokumentarfilms „Kanun Hükmü“ verantwortlich. Er sagte: „Letztlich sind er und sein Team die Hauptverantwortlichen für das, was letztes Jahr passiert ist.“
Zur Behauptung, dass einer der Gründe für die Zensur die Verbindung des Films mit der Gülen-Bewegung sei, sagte Boyacıoğlu: „Diese Frage sollten Sie besser dem Festivalpräsidenten Muhittin Böcek und der Festival-Managerin Cansel Tuncer stellen. Die Stadtverwaltung ist nicht nur Gastgeberin des Festivals. Wenn Sie in die Kataloge der Jahre 2019-2022 schauen, werden Sie sehen, dass Muhittin Böcek, der Bürgermeister von Antalya, gleichzeitig auch der Festivalpräsident war und Cansel Tuncer, die Generalsekretärin der Stadtverwaltung, die Festival-Managerin. Mein Lebenslauf und mein Foto standen im Katalog immer nach diesen beiden Personen an dritter Stelle. Wäre der Katalog 2023 gedruckt worden, hätten Sie die gleiche Reihenfolge gesehen. Bis letztes Jahr waren wir als künsterische Leitung frei in der Auswahl der Filme und der Vorauswahl-Jurys. Die Entscheidungen über die Jurymitglieder, Ehrenpreise und andere Themen wurden immer in Absprache mit den Vertretern der Stadtverwaltung getroffen. Letztes Jahr forderte der Bürgermeister, nachdem die Filmauswahl bekannt gegeben worden war, dass der Film „Kanun Hükmü“ aus dem Programm genommen wird. Trotz aller Warnungen hörte er nicht auf uns.“
Erinnerung an abgesagte Konzerte
Auf die Frage, ob das Festival ein Opfer der Politik wäre, auch im Hinblick auf die bevorstehenden Kommunalwahlen und ob Muhittin Böcek dies als eine gegen ihn gerichtete Kampagne ansieht, antwortete Boyacıoğlu: „Das ist möglich. Im Jahr zuvor hatten alle Künstler auf der Bühne bei der Preisverleihung das Regierungssystem kritisiert. Vielleicht wollte man verhindern, dass eine unter CHP-Führung stehende Stadtverwaltung vor den Wahlen eine bedeutende kulturelle Veranstaltung durchführt, die im Fokus steht.. Es ist auch möglich, dass die zuvor abgesagten Konzerte Teil dieser Politik waren. Ich wünschte, Bürgermeister Muhittin Böcek hätte Widerstand gegen diese Eingriffe geleistet.“
„Das Tragische ist, dass niemand den Film gesehen hat“
Die Journalistin Canan Yıldız stellte die Frage: „Muhittin Böcek ist von der CHP und der Kulturminister ist von der AKP. Am 21. September hat Kulturminister Mehmet Nuri Ersoy den Bürgermeister von Antalya, Muhittin Böcek, um 8 Uhr morgens sechsmal angerufen. Ersoy verlangte, dass der Film ‚Kanun Hükmü‘, innerhalb von 24 Stunden aus dem Programm gestrichen und in einer Pressemitteilung bekannt gegeben wird. Damit hat sich die Situation geändert.“ Diese Behauptung wurde nicht widerlegt. Warum würde ein CHP-Politiker ein 60 Jahre altes Festival riskieren, nur weil ein AKP-Politiker anruft? Boyacıoğlu antwortete darauf folgendermaßen:
„Antalya ist eine seltsame Stadt. Persönliche Beziehungen können wichtiger sein als die Zugehörigkeit zur CHP oder AKP. Auf der anderen Seite könnte der Bürgermeister unter ernstem Druck gestanden haben. Vielleicht dachte er, dass ein Zwangsverwalter eingesetzt würde und seine politische Karriere enden könnte, wenn er das Festival nicht absagt“. Das Traurigste sei, dass der Film, um den es ging, von niemandem gesehen wurde.
„Drei Ministerien mischten sich ein“
Boyacıoğlu wurde gefragt: „Warum haben Sie an diesem Tag nicht offen mit der Öffentlichkeit gesprochen? Sie waren es, die gesagt haben, dass der Dokumentarfilm wieder in den Wettbewerb aufgenommen wird, weil der Gerichtsprozess nicht mehr läuft. Danach haben Sie jedoch angekündigt, dass der Film wieder aus dem Programm genommen wurde.“
Darauf antwortete er: „Mein Anwalt hat mich gewarnt, dass ich keine Informationen über ein Telefongespräch, das ich nicht beweisen kann, in die Öffentlichkeit bringen sollte. Die erste Information war, dass es eine Untersuchung zu dem Film gibt. Es gibt eine Regel im Türkischen Strafgesetzbuch, die besagt, dass es illegal ist, den Gerichtsprozess zu beeinflussen. Deshalb wurde der Film aus dem Programm genommen. Als der Film auf Wunsch von Muhittin Böcek wieder aufgenommen wurde, griffen diesmal drei Ministerien gleichzeitig ein.“
„Das Einfachste war, die künstlerische Leitung zu beschuldigen“
Boyacıoğlu beschrieb den Zensur- und Verbotsprozess weiter: „Haben Sie erwartet, dass Muhittin Böcek sagt: ‚Ich stehe unter großem Druck und Drohungen. Wenn ich erkläre, dass ich das Festival durchführe und den Film zeige, könnte ein Zwangsverwalter eingesetzt werden und meine politische Karriere wäre vorbei‘? Das Einfachste war, das die künstlerische Leitung zu beschuldigen. Letztes Jahr, zwischen dem 21. und 29. September, habe ich Olkan Özyurt alles ausführlich erzählt. Ich werde das hier nicht wiederholen. Wer möchte, kann das Interview nachlesen.“
„Es wurde sogar behauptet, ich sei Fethullah-Anhänger“
„Es ist nicht einfach, aufzustehen und zu sagen: ‚Das war’s.‘ Wir haben monatelang gearbeitet, Regisseure haben ihre Filme dem Festival anvertraut, für 75 Gäste aus dem Ausland wurden bereits Tickets gekauft.
Besonders die lokale Presse in Antalya verbreitete viele falsche Nachrichten. Es wurde sogar behauptet, ich sei ein Anhänger von Fethullah Gülen. Meine Frau, die unter ständigen Magenschmerzen litt, wurde wegen eines Geschwürs behandelt, und meine Herzrhythmusstörungen nahmen zu. Schließlich musste ich mich einer Herzoperation unterziehen.
Nicht nur ich, sondern auch die jungen Kollegen, mit denen ich zusammenarbeite, haben ein großes Trauma erlebt. Während der Krise verbreiteten sich Gerüchte, dass eine Untersuchung gegen das Festivalteam eingeleitet wurde und Haftbefehle erlassen wurden. Ich glaube, dass jetzt niemand mehr die Grenzen von Antalya betreten wird. Seit 1988 habe ich an der Organisation von 48 Festivals gearbeitet und türkische Filmwochen in 25 Ländern organisiert. Mit einer solchen Schande bin ich noch nie konfrontiert worden.“
Die Absage des Festivals war ein großer Verlust für das türkische Kino. Die Produzenten und Regisseure, die ihre Filme nach Antalya geschickt hatten, konnten nicht am Wettbewerb teilnehmen. Es wurden keine Preise vergeben. Da das Antalya Filmforum nicht stattfinden konnte, konnten neue Projekte nicht mit ausländischen Produzenten und Distributoren in Kontakt gebracht werden. Während der Krise versuchten wir, den Vertretern der Filmbranche die möglichen Schäden durch die Absage des Festivals zu erklären, aber niemand wollte uns zuhören. Es hieß: „Wenn es keinen ‚Kanun Hükmü‘ gibt, dann gibt es auch kein Festival.“ Was hat sich seit letztem Jahr geändert? Nichts. Auch in diesem Jahr gibt es „Kanun Hükmü“ nicht, aber trotzdem werden alle nach Antalya fahren.
„Mit ‚Schweigen der Lämmer‘ beschrieben“
Das Ziel war es, das Festival abzusagen, und das wurde erreicht. Auf meine Erklärungen gab es keine Reaktion. Das Ministerium, die Stadtverwaltung, die Filmbranche und die Presse… Alle hüllten sich in Schweigen. Offenbar sind alle mit ihrer Situation zufrieden. Oder es liegt das „Schweigen der Lämmer“-Syndrom vor. Ich denke, das ist schlimmer als die Zensur.
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