Türkmen Terzi
Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) feiern den Nationalfeiertag der Republik Türkei, der von Mustafa Kemal Atatürk gegründet wurde, nicht mehr mit Begeisterung. Stattdessen gedenkt Erdoğans neue Regierung jährlich des gescheiterten Putschversuchs vom 15. Juli 2016 mit großem Trara als „Tag der Demokratie und nationalen Einheit“ im ganzen Land.
Viele glauben, dass der Putschversuch eine inszenierte Aktion war, um die autoritäre Herrschaft von Präsident Erdoğan zu stärken. Er wollte damit Dissidenten verfolgen und mächtige Akteure wie das Militär ausschalten, da er sie als Bedrohung für seine absolute Macht sah.
Bei dem gescheiterten Putsch wurden 251 Menschen getötet und über tausend weitere verletzt. Am nächsten Morgen, nachdem die Regierung den Putsch für niedergeschlagen erklärt hatte, begann die türkische Regierung sofort mit einer umfassenden Säuberung von Militärbeamten, Richtern, Polizisten, Lehrern und anderen Staatsangestellten, was schließlich zur Entlassung von mehr als 130.000 Personen führte.
Seit dem Putschversuch wird der Tag der Demokratie und der nationalen Einheit jedes Jahr am 15. Juli mit verschiedenen Veranstaltungen gefeiert, die von staatlichen Institutionen wie Gouverneursämtern, Polizeidiensten, Religionsbehörden, Gemeinden, Ministerien, Schulen, die mit dem Bildungsministerium verbunden sind organisiert werden. Auch türkische Botschaften weltweit beteiligen sich und arbeiten mit Organisationen wie der Türkischen Kooperations- und Koordinationsagentur (TİKA), der Türkischen Maarif Stiftung und dem Yunus-Emre-Institut zusammen, um an die Zivilisten zu erinnern, die während des Putschversuchs ihr Leben verloren haben.
Der staatliche Rundfunksender TRT und alle große Medien, die den Anweisungen von Erdoğan folgen, berichten umfassend über die Ereignisse am 15. Juli. Südafrika ist ein Land, in dem die AKP von Erdoğan aktiv die Erzählung vom 15. Juli fördert. Die türkische Botschaft in Pretoria hat am 19. Mai 2024 nur zwei Tweets veröffentlicht, um den Atatürk-, Jugend- und Sporttag zu feiern, der als Beginn des Türkischen Unabhängigkeitskampfes angesehen wird. Für den Tag der Republik, der die Proklamation der Republik im Jahr 1923 feiert, oder für den Tag des Sieges, der die letzte Schlacht des Türkischen Unabhängigkeitskriegs im Jahr 1922 feiert, gab es keine nennenswerten Beiträge. Die Botschaft hingegen hat 23 Tweets und Retweets veröffentlicht, um den Tag der Demokratie und der nationalen Einheit am 15. Juli zu feiern.
Die AKP erklärte den sogenannten Putschversuch vom 15. Juli, der vom türkischen Parlament, der unabhängigen Justiz, den Medien, Gerichten oder internationalen Organisationen nicht untersucht wurde, zum nationalen Feiertag. Dieser Feiertag wird zusammen mit anderen nationalen Tagen gefeiert, die bedeutende Erfolge in der jüngeren Geschichte gegen koloniale Mächte repräsentieren. Die AKP hat die staatlichen Institutionen verhindert, die wahren Ereignisse des Putschversuchs zu untersuchen, während sie den Zivilisten, die in der Nacht des 15. Juli ihr Leben verloren haben, mit Hunderten von Veranstaltungen und Millionen von Steuergeldern Tribut zollt.
Auf der anderen Seite setzen sich die Familien der Opfer, im Exil lebende Journalisten und Sicherheitskräfte, die während der Ereignisse des Putsches festgenommen wurden, weiterhin dafür ein, die Lügen der AKP über den 15. Juli aufzudecken.
„Diese Nacht ist für mich immer noch dunkel. In acht Jahren wurde nichts geklärt. Kein Politiker hat dieses Thema verfolgt, und es scheint, als würde es auch in Zukunft niemand tun. Auch von der Opposition kam nichts. Es scheint ein Staatsprojekt gewesen zu sein, eine systematische Sache, bei der jeder bekam, was er wollte. Die Mächtigen haben gekämpft, und das Volk wurde übergangen“, erklärte Nihal Olcok, die in der Nacht des Putsches ihren Ehemann Erol Olçok, einen prominenten Publizisten der AKP, und ihren 16-jährigen Sohn Abdullah verloren hat, der Nachrichtenwebsite Kürsü TV am Montag. Sie behauptete, dass ihr Ehemann und ihr Sohn von Scharfschützen getötet wurden.
Erol Olçok wies in Tweets, die er fünf Tage vor dem Putsch veröffentlichte, auf den 15. Juli hin und erklärte, dass Erdoğan gegen das türkische Militär planen würde, indem er kemalistische, linke und Soldaten, denen die Unterstützung zur Gülen-Bewegung vorgeworfen wird, aus dem Dienst entfernte und eine nationale Armee mit loyalen Soldaten bildete. Am Tag des Putsches bekam er ständig Anrufe von der AKP-Zentrale, die ihn anwiesen, zur Bosporus-Brücke zu gehen, wo der inszenierte Putschversuch begonnen hatte.
Der Kommandeur der SAT (äquivalent zu den US-Marines), Mevlüt Öncel, erklärte vor Gericht, dass nicht die Soldaten, sondern unbekannte Bewaffnete die Zivilisten töteten. „Was geschah in dieser Nacht? Als erstes, schafften es einige Behörden, das Militär und die Zivilbevölkerung am selben Ort zusammenzubringen, die sich in der Nacht des 15. Juli gegenüberstanden. Tausende von Bürgern kamen zu den Kasernen, aber es war kein einziger Polizist da. Sie sahen, dass die Soldaten nicht auf die Bürger schossen. Um 3 Uhr morgens schnitt man den gesamten Strom zur Militärbasis ab. Gleichzeitig mit den Warnschüssen der Soldaten schossen sie auch. Tatsächlich war das eine Hinrichtung…“
Die Obduktionsberichte unterstützen Öncels Aussage, dass fast alle Zivilisten nicht von Kugeln der Soldaten, sondern von Scharfschützen getötet wurden. Die türkische Armee hatte zu diesem Zeitpunkt keine Scharfschützen Einheit.
Seit dem Putschversuch sind schon acht Jahren vergangen, doch Erdoğan hat nicht erklärt, warum er das Leben von Millionen Zivilisten riskiert hat, indem er sie während einer Live-Übertragung auf CNN Türk aufforderte, auf die Straßen zu gehen, um den Waffen und Panzern der Putschisten zu begegnen. Außerdem hat er verhindert, dass Gerichte und parlamentarische Kommissionen untersuchen, wer für den Tod der Zivilisten verantwortlich ist.
Erdoğan beschuldigte den islamischen Gelehrten Fethullah Gülen unverzüglich, der Drahtzieher des Putschversuchs zu sein, noch während dieser im Gange war. Und nach acht Jahren führt er immer noch eine weitreichende Verfolgung von über 2 Millionen Gülen-Anhängern durch, darunter Lehrer, Hausfrauen und Studenten. Bis heute konnte er oder jemand aus seiner Regierung keinen einzigen glaubwürdigen Beweis für Gülens Beteiligung vorlegen.
Doch Erdoğan, Hulusi Akar, der damalige Armeekommandeur, der später Verteidigungsminister wurde, und der aktuelle Außenminister Hakan Fidan, der damals der Geheimdienstchef war, haben nicht vor einer parlamentarischen Untersuchungskommission oder vor Gericht gezeugt, um die Einzelheiten des Putschversuchs zu teilen. Erdoğan, der zu diesem Zeitpunkt seit über 14 Jahren das Land regierte, bezeichnete den gescheiterten Putsch in seiner Ansprache an die Nation, am Flughafen Istanbul während des Putschversuchs, als „ein Geschenk Gottes“.
Fast ein Jahrzehnt später hat sich gezeigt, dass Erdoğan es geschafft hat, seine Ein-Mann-Herrschaft dank des Putschversuchs vom 15. Juli zu verfestigen. Erdoğan’s AKP hat fast die Hälfte der türkischen Generäle aus der Armee entfernt und sie durch Kommandeure ersetzt, die der AKP am nächsten stehen. Über 4.000 Richter und Staatsanwälte wurden entlassen und durch frische Absolventen ersetzt, die als Richter und Staatsanwälte eingesetzt wurden und Befehle von Erdoğan nahmen. Polizei und andere wichtige Staatsdiener wurden aus ihren Ämtern entfernt, nur weil sie beschuldigt wurden, Mitglied der Gülen-Bewegung zu sein.
Der gescheiterte Putsch ermöglichte es Erdoğan, all seine Kritiker in den staatlichen Institutionen zum Schweigen zu bringen. Die AKP schloss 170 Medienhäuser, und viele leitende Redakteure und Journalisten mussten das Land verlassen. Seit der Nacht des 15. Juli hat Erdoğan das parlamentarische System der Türkei in eine Präsidialregierung umgewandelt, in der er keinen Widerstand von der kemalistischen Militärstruktur oder der einst starken bürokratischen Macht der Gülen-Bewegung erfährt. Er kann das Land im Alleingang in den Krieg führen, wie die türkischen Militäroperationen in Syrien gezeigt haben.
Die Ironie ist, dass die Hexenjagd der AKP gegen Mitglieder der Gülen-Bewegung in den letzten acht Jahren ununterbrochen fortgesetzt wurde, während die Soldaten, die Erdoğan in Marmaris in der Nacht des 15. Juli beschützten, und die Piloten, die ihn nach Istanbul flogen, wegen ihrer vermeintlichen Zugehörigkeit zur Bewegung inhaftiert wurden.
Die türkische Professorin Nursen Mazıcı, deren Doktorarbeit sich mit Militärputsche beschäftigt, sagte an Habertürk TV: „Der 15. Juli ist kein Militärputsch. Wer von diesem Ereignis profitiert hat, ist der Täter.“
Der Putschversuch vom 15. Juli war eine inszenierte Operation und ein Geschenk Gottes für Erdoğan. Wie Kemal Kılıçdaroğlu, der ehemalige Vorsitzende der größten Oppositionspartei CHP, bemerkte, nutzte Erdoğan den 15. Juli, um seinen eigenen zivilen Putsch durchzuführen. Seither stützt sich Erdoğans islamistisches Regime maßgeblich auf die Rhetorik dieses Ereignisses, um seine Herrschaft zu festigen und fortzusetzen.
Erstveröffentlichung: 18. Juli 2024 https://www.turkishminute.com/2024/07/18/opinion-erdogan-relies-on-the-big-lie-of-crushing-a-coup-in-july-2016/
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