Europäisches Parlament rügt Türkei scharf – autoritäre Tendenzen belasten Beitrittsgespräche

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Das Europäische Parlament hat einen Bericht verabschiedet, der die Türkei in ungewöhnlich deutlicher Sprache kritisiert. Wie die türkische Ausgabe der BBC berichtet, fordern die Abgeordneten Ankara darin auf, bindende Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) uneingeschränkt umzusetzen. Zugleich warnen sie, dass die autoritäre Entwicklung des Landes die bereits eingefrorenen EU-Beitrittsverhandlungen zusätzlich belaste.

Der 27-seitige Bericht stammt aus der Feder des spanischen Europaabgeordneten Nacho Sánchez Amor und wurde am Mittwoch während der Plenarsitzung in Straßburg mit 367 Stimmen bei 74 Gegenstimmen und 188 Enthaltungen angenommen. Nach seiner Verabschiedung soll das Dokument dem Europäischen Rat, der Kommission und der türkischen Regierung übermittelt werden.

Besonderes Augenmerk legt der Bericht auf die Weigerung der Türkei, Urteile des EGMR in den Fällen des inhaftierten Philanthropen Osman Kavala und des kurdischen Politikers Selahattin Demirtaş umzusetzen. Das Parlament fordert die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten auf, alle diplomatischen Mittel auszuschöpfen, um Ankara zur Einhaltung zu bewegen – auch eine Koppelung finanzieller Hilfen an die Umsetzung der EGMR-Urteile solle in Betracht gezogen werden.

Kavala und Demirtaş sitzen seit Jahren wegen politisch motivierter Vorwürfe in Haft – ungeachtet der einschlägigen Urteile des EGMR zu ihren Gunsten. Die Nichtbefolgung der Entscheidung im Fall Kavala veranlasste das Ministerkomitee des Europarats bereits im Februar 2022 zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Türkei, das bis heute andauert.

„Die Achtung bindender Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist keine Option, sondern eine rechtliche Verpflichtung“, mahnte Sánchez Amor in der am Dienstagabend spärlich besuchten Debatte des Parlaments.

Der Bericht äußert sich zutiefst besorgt über Rückschritte in den Bereichen Demokratie, Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei und bekräftigt, dass es „keine Abkürzungen“ auf dem Weg in die EU gebe.

In diesem Zusammenhang kritisiert er auch die jüngste Inhaftierung des suspendierten Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu, die als „politisch motiviert“ bezeichnet wird. Die Türkei gleite zunehmend in ein autoritäres Modell ab, heißt es. İmamoğlu, Präsidentschaftskandidat der oppositionellen CHP und stärkster Herausforderer von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, wurde am 19. März festgenommen und vier Tage später inhaftiert. Seine Amtsenthebung löste die größten regierungskritischen Proteste seit den Gezi-Park-Demonstrationen im Jahr 2013 aus.

Viele Beobachter werten die Korruptionsvorwürfe gegen İmamoğlu als gezielten Versuch, ihn von der nächsten Präsidentschaftswahl auszuschließen.

Eingefrorene Beitrittsgespräche und der Ruf nach einer „neuen Beziehung“

Trotz der harschen Kritik betont der Bericht die strategische Bedeutung der Türkei für Europa. Eine Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen sei jedoch unter den derzeitigen Bedingungen ausgeschlossen. Stattdessen plädiert das Parlament für eine neue, strukturierte Partnerschaft mit der Türkei. Die offiziellen Beitrittsverhandlungen sind seit 2018 de facto eingefroren.

Die Türkei wurde im Dezember 1999 als EU-Beitrittskandidat anerkannt, die Verhandlungen begannen im Dezember 2005. Von 35 Kapiteln wurden bisher nur 16 eröffnet und lediglich eines abgeschlossen.

Das Dokument warnt, dass „die autoritäre Wende der Türkei“ sämtliche Aspekte der Beziehungen zur EU bedrohe – einschließlich Handel und sicherheitspolitischer Zusammenarbeit. Zwar erkenne man die proeuropäische Haltung vieler türkischer Bürger an, jedoch folgten auf positive Äußerungen der türkischen Führung keine konkreten Reformen.

„Die Hoffnungen der türkischen Bürger dürfen nicht ignoriert werden. Wir müssen mit ihnen im Gespräch bleiben, auch wenn der Beitrittsprozess weiterhin blockiert ist“, heißt es im Text.

Visa-Problematik und Zollunion

Der Bericht geht auch auf die wachsenden Schwierigkeiten für türkische Staatsbürger bei der Erlangung von Schengen-Visa ein. Die Abgeordneten fordern die Mitgliedstaaten auf, mehr Mittel zur Beschleunigung der Verfahren bereitzustellen und verbleibende administrative wie technische Hürden zu beseitigen.

Der Frust über das Visaverfahren nimmt in der Türkei zu. 2023 wurden laut EU-Angaben fast 200.000 Anträge aus der Türkei abgelehnt – eine Ablehnungsquote von 16,1 Prozent.

Die türkische Regierung drängt darauf, die Visabeschränkungen zu lockern und die ins Stocken geratenen Gespräche zur Visaliberalisierung wiederzubeleben.

Bezüglich der Zollunion spricht sich das Parlament grundsätzlich für eine Modernisierung aus, knüpft diese aber an Fortschritte im Bereich Menschenrechte, die Einhaltung des Völkerrechts und gute nachbarschaftliche Beziehungen.

Die seit 1995 bestehende Zollunion ist derzeit auf Industrieprodukte und verarbeitete Agrarerzeugnisse beschränkt. Eine modernisierte Fassung würde der Türkei weitergehenden Zugang zum EU-Dienstleistungs- und Beschaffungsmarkt gewähren und damit Export und Investitionen fördern – insbesondere in Sektoren wie Technologie, Finanzen und Landwirtschaft.

Lob für Friedensinitiativen mit der PKK

Selten lobend äußert sich der Bericht über laufende Friedensbemühungen zur Beendigung des seit Jahrzehnten andauernden Konflikts mit der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Besonders hervorgehoben wird ein im Februar in Istanbul verlesener Aufruf des inhaftierten PKK-Anführers Abdullah Öcalan an seine Organisation, die Waffen niederzulegen und sich aufzulösen – eine als historisch und überfällig bezeichnete Erklärung.

Zudem wird die Rolle von Devlet Bahçeli, dem Vorsitzenden der rechtsnationalistischen MHP, bei der Einleitung des Dialogs gewürdigt – trotz seiner früheren harten Haltung gegenüber kurdischen Akteuren.

Die 1978 gegründete PKK führt seit 1984 einen blutigen Aufstand im Südosten der Türkei. Sie wird von der Türkei und ihren westlichen Verbündeten als Terrororganisation eingestuft.

Zypern und diplomatische Spannungen

Mit deutlichen Worten kritisiert das Parlament die anhaltende türkische Unterstützung einer Zwei-Staaten-Lösung auf Zypern, die es als „inakzeptabel“ bezeichnet. Es bekräftigt, dass nur eine bizonale, bikommunale Föderation eine tragfähige Lösung darstelle. Die Anerkennung der Republik Zypern durch die Türkei sei unabdingbare Voraussetzung für Fortschritte in den EU-Beziehungen.

Die Türkei erkennt die Republik Zypern – Mitglied der Europäischen Union – bis heute nicht an und unterhält lediglich Beziehungen zur nur von ihr anerkannten Türkischen Republik Nordzypern (KKTC).

Die Insel ist seit 1974 geteilt, als türkische Truppen nach einem von Griechenland unterstützten Putsch intervenierten. Die KKTC wurde 1983 ausgerufen.

 

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