Regierungskoalition lehnt Antrag der Opposition ab
Die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) in der Türkei und ihr Koalitionspartner, die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), haben am Dienstag einen Antrag abgelehnt, die bevorstehenden Anhörungen im Verfahren gegen den inhaftierten Bürgermeister der Metropole Istanbul, Ekrem İmamoğlu, live im staatlichen Sender TRT zu übertragen. Dies berichtete die Nachrichtenagentur Anka.
Der Antrag stammte von der größten Oppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei (CHP).
Ein politisch bedeutsamer Prozess
İmamoğlu, von vielen als stärkster politischer Rivale von Präsident Recep Tayyip Erdoğan und Präsidentschaftskandidat der CHP angesehen, war im März festgenommen worden – ein Vorgang, den Kritiker als politisch motivierte Korruptionsermittlung bezeichnen.
Vor der Abstimmung rief der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CHP, Murat Emir, die Regierungsabgeordneten auf, den Antrag zu unterstützen. Die Öffentlichkeit müsse ein Verfahren verfolgen können, das die demokratische Repräsentation in der größten Stadt des Landes unmittelbar betreffe.
„Habt keine Angst, lauft nicht davon“, sagte Emir. „Ihr sagt, die Anklage sei solide. Dann soll TRT den Prozess übertragen, damit es jeder sehen kann.“
Eine Anklageschrift von fast 4.000 Seiten
Die Staatsanwaltschaft hatte im vergangenen Monat die lang erwartete Anklageschrift gegen İmamoğlu vorgelegt. Sie wirft ihm vor, ein weit verzweigtes kriminelles Netzwerk zu führen und 142 Straftaten begangen zu haben – Delikte, die zusammengenommen zu einer Haftstrafe von bis zu 2.430 Jahren führen könnten.
Die nahezu 4.000 Seiten starke Anklageschrift beschuldigt İmamoğlu unter anderem der Leitung einer kriminellen Organisation, der Bestechung, Unterschlagung, Geldwäsche, Erpressung und Manipulation öffentlicher Ausschreibungen.
İmamoğlu weist sämtliche Vorwürfe zurück und bezeichnet sie als politisch motiviert.
Frühere Signale der Zustimmung verblassen
Die CHP hatte den Gesetzentwurf erstmals im Mai eingebracht, kurz nachdem MHP-Vorsitzender Devlet Bahçeli öffentlich erklärt hatte, die Anhörungen könnten live ausgestrahlt werden; dies würde „die Wahrheit für die Öffentlichkeit vollständig sichtbar machen“. Auch Präsident Erdoğan habe damals Offenheit signalisiert, so die CHP.
Der Vorschlag der CHP sah Änderungen der Strafprozessordnung und des TRT-Gesetzes vor, um eine Live-Übertragung von Prozessen mit gewählten Amtsträgern verpflichtend zu machen. Emir betonte, selbst Justizminister Yılmaz Tunç habe erklärt, eine solche Übertragung sei möglich, „wenn das Parlament entscheidet“.
Heftiges Wortgefecht im Parlament
Nachdem AKP und MHP den Antrag ablehnten, kam es nach Angaben der Nachrichtenseite Gazete Oksijen am Dienstag zu einem kurzen Wortgefecht zwischen dem stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CHP, Murat Emir und dem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der MHP, Erkan Akçay.
„Wir haben gesagt, nur Lügner fürchten, dass TRT die Wahrheit ausstrahlt. Doch AKP und MHP haben selbst die Aufnahme unseres Vorschlags zur [Istanbul-Metropolgemeinde-]Verhandlung in die Tagesordnung blockiert“, schrieb Emir nach der Abstimmung auf X.
İmamoğlu, der sich seit dem 23. März in Untersuchungshaft befindet, reagierte scharf auf die Entscheidung. „Ihr überrascht mich nie. Euch fehlt der Mut“, ließ er über den Account des Präsidentschaftskandidatenbüros auf X mitteilen; diesen Kanal nutzt er über seine Anwälte, seit sein persönliches Konto Anfang des Jahres in der Türkei eingeschränkt wurde.
Landesweite Proteste nach İmamoğlus Festnahme
Seine Festnahme hatte die größten Straßenproteste ausgelöst, die die Türkei seit mehr als einem Jahrzehnt erlebt hat. Tausende versammelten sich vor dem Istanbuler Rathaus in Saraçhane. Die Demonstrationen breiteten sich rasch im ganzen Land aus und führten zu nächtlichen Zusammenstößen mit der Bereitschaftspolizei. Nahezu 2.000 Menschen wurden festgenommen, darunter Studenten und mehrere Journalisten, einige von ihnen blieben wochen- oder monatelang in Haft, bevor Anklage erhoben wurde.
Opposition spricht von systematischer Repression
Die CHP selbst sieht sich seit mehr als einem Jahr einer breit angelegten Repressionswelle ausgesetzt. Sechzehn Bürgermeister der Partei sowie Dutzende Funktionäre wurden im Zuge verschiedener Ermittlungen inhaftiert.
CHP-Vorsitzender Özgür Özel bezeichnet die Verfahren als politisch motivierte Operationen mit dem Ziel, die lokale Demokratie zu schwächen und die Kontrolle der Opposition über die großen Städte zu unterminieren.

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