Es sind alarmierende Zahlen, die die Istanbul Planungsagentur (IPA) in ihrer jüngsten Studie veröffentlicht hat: Mehr als die Hälfte der jungen Menschen zwischen 18 und 30 Jahren in der türkischen Metropole denkt ernsthaft über eine Auswanderung nach – nicht aus Neugier, sondern aus Not.
Die Untersuchung, die sich auf über drei Millionen junge Istanbuler*innen bezieht, zeigt: Die junge Generation fühlt sich wirtschaftlich abgehängt, politisch übergangen und sozial ausgebremst. Perspektiven? Fehlanzeige.
Wenn Bildung nicht mehr reicht
Früher galt Bildung als Aufstiegsversprechen – heute sehen viele sie als leere Hülle. 41 Prozent der jungen Menschen arbeiten in Jobs, die unter ihrem Ausbildungsniveau liegen. Jede*r Vierte zwischen 15 und 29 ist weder in Ausbildung noch in Beschäftigung. Der Glaube an Chancengleichheit schwindet. Bewerbungen scheitern nicht an Kompetenz, sondern an fehlenden Beziehungen, sagen viele.
Verlorene Kaufkraft, verlorene Träume
Der wirtschaftliche Niedergang ist konkret messbar: Die Kaufkraft des staatlichen KYK-Stipendiums, das Studierende unterstützen soll, ist seit 2005 im Vergleich zu Gold um 84,5 Prozent gesunken – verglichen mit Grundnahrungsmitteln wie Tee und Simit sogar um 84,4 Prozent. Was einst für einen bescheidenen studentischen Alltag reichte, reicht heute kaum noch für das Nötigste.
Wohnen ist keine Entscheidung mehr – es ist eine Krise
Wohnraum war früher ein individueller Schritt in Richtung Selbstständigkeit – heute ist er zum gesellschaftlichen Problem geworden. Fast 79 Prozent der Befragten sehen keine Chance, unabhängig zu wohnen. Von Heirat oder Eigentum ganz zu schweigen: 82 Prozent verschieben eine Eheschließung aus finanziellen Gründen, der Traum vom Eigenheim wird nicht einmal mehr formuliert.
Auswandern: von Option zur Notwendigkeit
50,4 Prozent der jungen Menschen in Istanbul wollen die Türkei verlassen – vor 20 Jahren lag dieser Wert noch bei 35,1 Prozent. Der Wunsch nach Auslandserfahrung ist einem Gefühl der Flucht gewichen: vor Korruption, wirtschaftlicher Unsicherheit, einem System, das Leistung nicht belohnt. Der Blick über die Grenzen ist längst kein Privileg der Akademiker mehr – er beginnt inzwischen in der Oberstufe.
Ein Land am Kipppunkt
Die Ergebnisse der Istanbul Planungsagentur sind mehr als ein Warnruf – sie sind ein stiller Aufschrei einer Generation, die sich zurückgelassen fühlt. Wenn Bildung entwertet, Arbeit entmutigt und Wohnen unerschwinglich wird, bleibt vielen nur die Tür nach draußen. Die Frage ist nicht mehr, ob die Jugend geht – sondern ob und wie sie je zurückkommt.
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