Bei einer Podiumsdiskussion anlässlich des Welttags der Pressefreiheit in Brüssel warnten Redner davor, dass Journalisten im Exil zunehmend Zensur durch große Online-Plattformen erleben – oft auf Verlangen autoritärer Regierungen. Sie forderten die Europäische Union auf, bestehende Digitalgesetze entschlossener durchzusetzen, um die grenzüberschreitende Pressefreiheit zu schützen.
Die Veranstaltung unter dem Titel „The Press Freedom Talks: Journalismus im digitalen Zeitalter“ fand am 8. Mai an der Vrije Universiteit Brussel statt. Organisiert wurde sie von der belgischen NGO Solidarity with OTHERS, die hauptsächlich politische Exilierte aus der Türkei umfasst. Die Diskussion fiel mit einer gerichtlichen Sperrung des offiziellen X-Accounts des oppositionellen Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu zusammen, der derzeit in der Türkei in Untersuchungshaft sitzt – ein weiterer Vorfall im wachsenden Muster von Inhaltslöschungen auf Druck der türkischen Regierung.
Demokratie braucht freie Informationen
Moderator Selçuk Gültaşlı, ein türkischer Journalist, dessen Zeitung von der Regierung übernommen wurde, eröffnete die Veranstaltung mit den Worten: „Wenn Bürger nicht gut über öffentliche Angelegenheiten informiert sind, können sie keine freien Entscheidungen bei Wahlen treffen. Ohne Information funktioniert Demokratie nicht.“
Gültaşlı schilderte, wie autoritäre Regierungen die Demokratie untergraben, indem sie zunächst die freie Presse attackieren – etwa durch Zensur, Überwachung und Kontrolle über öffentlich-rechtliche Medien. Er nannte Beispiele aus Ungarn, der Slowakei, Italien, Ägypten, Afghanistan und der Türkei.
EU-Gesetze vorhanden, Umsetzung schwach
In einer Videobotschaft betonte Irena Joveva, Europaabgeordnete der Renew Europe-Fraktion aus Slowenien, die Bedeutung des Europäischen Medienfreiheitsgesetzes, wies jedoch darauf hin, dass dessen Durchsetzung entscheidend sei. Sie beklagte zudem, dass sowohl private als auch öffentliche Medien in vielen EU-Mitgliedsstaaten unter Druck geraten seien, und kritisierte die zunehmende Einflussnahme von Oligarchen auf Medienhäuser.
Große Plattformen unter Druck autoritärer Staaten
Im Fokus der Diskussion stand auch der wachsende Einfluss großer Plattformen wie X (ehemals Twitter). Seit Mai 2023 wurden in der Türkei auf Anordnung der Behörden über 300 Accounts und 700 Beiträge gesperrt, insbesondere zu sensiblen politischen Ereignissen. Am 8. Mai 2025 sperrte X erneut den Account von İmamoğlu nach Vorwürfen der Aufwiegelung durch einen Gefängnis-Post.
Exiljournalisten berichten über anhaltende Verfolgung
Der in Schweden lebende Journalist Abdullah Bozkurt schilderte, wie die türkische Regierung selbst während der NATO-Verhandlungen mit Schweden forderte, seine Plattform Nordic Monitor zu schließen. Auch nach Ablehnung dieser Forderung würden türkische Behörden internationale Mechanismen wie INTERPOL und Rechtshilfeabkommen missbrauchen, um Exiljournalisten zu verfolgen.
Der ägyptische Investigativjournalist Ahmed Gamal Ziada berichtete, wie er nach Haft und Verschleppung aus Ägypten fliehen musste. In Belgien baute er sich als Journalist neu auf und gründete Zawia3, ein Netzwerk von 27 Reportern, das trotz Internetblockaden und eingeschränkter Finanzierung weiterhin über Korruption und Menschenrechtsverletzungen berichtet.
Überwachung und Monopolstrukturen gefährden Journalismus
Karl van den Broeck, Chefredakteur der belgischen Investigativplattform Apache, kritisierte die Abhängigkeit der Medien von Werbeeinnahmen großer Tech-Konzerne. „Facebook ist kostenlos, aber man zahlt mit seiner Identität“, sagte er und warnte vor einem Zusammenspiel von Unternehmens- und Staatsüberwachung.
Er stellte das genossenschaftliche Modell von Apache als Alternative vor: 2.000 Mitglieder finanzieren die Plattform durch Anteilsbesitz – jede Person hat nur eine Stimme, unabhängig von der Anzahl der Anteile.
Die unsichtbare Zensur: Frauenstimmen unter den Taliban
Die afghanische Journalistin Lailuma Sadid schilderte die vollständige Auslöschung weiblicher Stimmen in Afghanistan unter der Herrschaft der Taliban. Journalistinnen dürfen dort weder arbeiten noch öffentlich auftreten. Sadid forderte mehr Unterstützung für Exiljournalistinnen, die trotz Qualifikationen oft keine Beschäftigung finden.
Plattformen zur Verantwortung ziehen
Renate Schroeder, Direktorin der Europäischen Journalistenföderation (EFJ), kritisierte den zunehmenden Einsatz von Spionagesoftware gegen Reporter. Über 1.400 Angriffe auf Journalisten wurden allein im vergangenen Jahr in Europa registriert. Sie rief die Europäische Kommission auf, den Digital Services Act (DSA) und den Digital Markets Act (DMA) endlich wirksam umzusetzen.
Nach der Veranstaltung sagte Schroeder gegenüber Turkish Minute, dass bestehende europäische Regeln zur Plattformregulierung dringend strikter durchgesetzt werden müssten. Besonders Plattformen müssten Transparenz schaffen, systemische Risiken für die Pressefreiheit verringern und Maßnahmen gegen Account-Sperrungen und Desinformationsangriffe ergreifen.
EU urged to address censorship by large online platforms at authoritarian governments’ request
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