“Wir leben in einer Diktatur”, sagt Kuzey, ein Geschäftsmann aus Istanbul, nachdem die Polizei den populären Oppositionsbürgermeister der Stadt, Ekrem İmamoğlu, wegen Korruptionsvorwürfen festgenommen hat.
Die frühmorgendliche Festnahme İmamoğlus unter dem Vorwurf der Bestechlichkeit sei rein politisch motiviert, erklärt Kuzey, während er sein Geschäft nahe des Taksim-Platzes öffnet. Der Schritt erfolgte nur wenige Tage, nachdem İmamoğlu, der wichtigste politische Widersacher des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, offiziell als Oppositionskandidat für die Präsidentschaftswahl 2028 nominiert worden war.
“Immer wenn dieser Mann und sein korrupter Apparat auf eine starke Figur treffen, geraten sie in Panik und greifen zu illegalen Mitteln”, sagt der etwa 40-jährige Mann in Jeans und schwarzem Oberteil und meint damit Erdoğan und die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die seit 2002 an der Macht ist. “Aber wir Türken sind ein starkes Volk, wir sind es gewohnt, gegen solche Dinge zu kämpfen”, fügt er hinzu, während sich zahlreiche Polizisten in Richtung des abgesperrten Taksim-Platzes bewegen.
Vier Wasserwerfer stehen bereit, um Proteste auf dem weitläufigen Platz zu unterbinden, der 2013 das Zentrum der Proteste gegen Erdoğan war, als dieser noch Ministerpräsident war.
Viele Menschen meiden in diesen turbulenten Zeiten öffentliche Kommentare, und jene, die es doch tun, geben lediglich ihren Vornamen an. “Das ist sehr schlimm, und ich weiß nicht, was als Nächstes passieren wird. Man kann nie wissen, was sie als nächstes tun”, sagt ein Passant namens Mustafa. “Ich bin wütend, aber was können wir tun?”
In einer Nebenstraße äußerte sich ein Rentner mit grauem Barett betroffen über die Festnahme İmamoğlus und von mehr als hundert seiner Mitstreiter, darunter viele Mitglieder der wichtigsten Oppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei (CHP). “Ich bin traurig um mein Land, so sollte es nicht sein”, sagt er der Nachrichtenagentur Agence France-Presse und lehnt es ab, seinen Namen zu nennen.
“Früher kamen die Putsche von den Soldaten”
Vor der Polizeizentrale, in die der Bürgermeister gebracht wurde, versammelten sich mehrere Hundert Menschen zu Protesten an den Absperrungen und riefen: “İmamoğlu, du bist nicht allein!”
“Regierung, tritt zurück!”, skandierten sie.
“Eines Tages wird die AKP dem Volk Rechenschaft ablegen müssen.”
Auf der belebten Einkaufsstraße Istiklal herrscht Unruhe in den Wechselstuben, die jährlich Millionen von Touristen bedienen. Die Nachricht von der Festnahme lässt die türkische Lira auf historische Tiefststände gegenüber dem Dollar und dem Euro absacken.
Vor einer dieser Wechselstuben zeigt sich der 63-jährige Hasan Yıldız entsetzt über die Verhaftung und bezeichnet sie als nicht weniger als einen “Putsch” gegen die Opposition.
Der Schritt erfolgte nur wenige Tage, bevor die CHP offiziell İmamoğlu als ihren Kandidaten für die Präsidentschaftswahl 2028 nominieren wollte.
“Früher waren es die Soldaten, die Putsche verübten. Heute sind es die Politiker”, sagt Yıldız unbeeindruckt von dem in der Nähe geparkten Polizeiwagen.
“Ausländische Investoren werden nicht mehr in die Türkei investieren. Wer will schon in ein Land investieren, in dem es keine Gerechtigkeit oder Rechtsstaatlichkeit gibt?”, fragt er.
“Die Preise werden steigen”
Ein weiterer Passant namens Emre, der in der Nähe arbeitet, befürchtet wirtschaftliche Folgen für die Bevölkerung.
“Mich überrascht nichts mehr. Bald wird der Wechselkurs bei 50 Lira pro Euro liegen”, sagt er gegenüber AFP. Bereits nach der Festnahme hatte der Kurs ein historisches Hoch von 42 Lira pro Euro erreicht.
“Und das wird sich auf die Preise für Brot und alles andere auswirken. All das nur wegen der ungerechten Entscheidungen eines einzigen Mannes.”
Zeynep Kara, 68, gibt zu, “wütend” zu sein, und bezeichnet den Grund für die Verhaftung İmamoğlus als “offensichtlich” – es gehe darum, ihn an einer Kandidatur zu hindern. Die Korruptionsvorwürfe seien lediglich ein “Vorwand”.
“Die Lage wird sich nicht verbessern”, sagt sie.
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