Führende Politiker der türkischen Opposition werfen der Regierung vor, eine neue Methode gefunden zu haben, um Kritiker mundtot zu machen: Bürgermeister und lokale Mandatsträger sollen durch Druck zum Übertritt in die Regierungspartei AKP gezwungen werden.
Die größte Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP), sieht sich derzeit einer Reihe politisch motivierter Prozesse und Festnahmen ausgesetzt, die gezielt ihre Bürgermeister treffen. Die Repressionen begannen nach dem deutlichen Sieg der CHP bei den Kommunalwahlen im März 2024, als sie zahlreiche Rathäuser der regierenden AKP abnahm.
Welle von Übertritten zur AKP
In den vergangenen 18 Monaten wechselten fast 60 oppositionelle Bürgermeister ins Lager der AKP. Der prominenteste Fall war im August der Übertritt von Özlem Çerçioğlu, der CHP-Bürgermeisterin der Provinz Aydın, gemeinsam mit fünf weiteren Bezirksbürgermeistern – ein Schritt, den Präsident Erdoğan persönlich verkündete.
Gleichzeitig wurden mindestens elf von 26 CHP-Bürgermeistern in der Provinz Istanbul festgenommen, darunter auch der suspendierte Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu. Er gilt als wichtigster Oppositionspolitiker und als einziger ernstzunehmender Rivale Erdoğans bei der Präsidentschaftswahl. Seine Verhaftung im März führte zu den größten Straßenprotesten seit Gezi 2013.
„Die Botschaft ist klar: Tritt der AKP bei oder du landest im Gefängnis“, sagte CHP-Chef Özgür Özel.
Einschüchterung und erzwungene Rücktritte
CHP-Vizechef Murat Bakan betonte: „In der Türkei reicht es, ein Bürgermeister zu sein, um ins Gefängnis zu kommen – ganz ohne Straftat. Manche werden durch falsche Zeugenaussagen belastet, andere durch Druck zum Übertritt gezwungen.“
Auch Gemeinderäte gerieten zunehmend ins Visier: In Adana berichtete ein Ratsmitglied, AKP-Vertreter hätten versucht, Stadträte zum Rücktritt zu bewegen, um Mehrheiten in den Stadtparlamenten zu übernehmen und kommissarische Bürgermeister einsetzen zu können.
Die Strategie erinnert an 2019, als mehr als 50 Bürgermeister der prokurdischen HDP (heute DEM-Partei) wegen angeblicher Terrorverbindungen ihres Amtes enthoben und durch AKP-Treuhänder ersetzt wurden.
Ziel: Opposition neutralisieren
Laut der Politikwissenschaftlerin Sinem Adar (Zentrum für angewandte Türkeistudien, Berlin) gehe es darum, die Opposition „zu neutralisieren“ und gleichzeitig den Eindruck zu erwecken, die AKP sei weiterhin attraktiv, da Bürgermeister zur Regierungspartei überlaufen. „Tatsächlich befindet sich die Popularität der AKP seit 2015 im Abwärtstrend“, so Adar.
Präsident Erdoğan erklärte im September, die Überläufer seien überzeugt, „dass die AKP die ideale Partei sei, um der Nation zu dienen“, und kündigte weitere Wechsel an.
CHP-Vertreter weisen dies zurück: „Unsere Standhaftigkeit eint die gesamte Opposition“, sagte Murat Bakan.
Adar resümierte: „Die AKP hat die Grenzen politischer Reform erreicht und setzt nun verstärkt auf Repression. Wären freie Wahlen möglich, hätte die Regierungspartei kaum Chancen auf einen Sieg.“

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