Alarmiert über den Rückgang der Geburtenrate in der Türkei, hat Präsident Recep Tayyip Erdoğan eine neue demografiepolitische Offensive gestartet. Die sinkende Kinderzahl sei „eine größere Bedrohung als der Krieg“, erklärte er und kündigte nach dem „Jahr der Familie“ 2025 nun eine „Dekade der Familie“ ab 2026 an.
Doch trotz Appellen an Frauen, mindestens drei Kinder zu bekommen, und trotz finanzieller Anreize für frisch verheiratete Paare zeigt sich: Die Maßnahmen treffen auf Skepsis – auch wegen der anhaltenden wirtschaftlichen Krise im Land.
Geburtenrate auf historischem Tief
Offiziellen Daten zufolge ist die Geburtenrate pro Frau von 2,38 im Jahr 2001 auf nur noch 1,48 im Jahr 2025 gesunken – niedriger als in Frankreich, Großbritannien oder den USA. Erdoğan, 71 Jahre alt, Vater von vier Kindern und seit über zwei Jahrzehnten an der Macht, spricht von einer „Katastrophe“.
Doch nicht alle teilen diese Sicht. Die feministische Aktivistin und pensionierte Akademikerin Berrin Sönmez kritisiert, dass Frauen und LGBTQ+-Personen als Sündenböcke herhalten müssten.
„Die politische Verantwortung für diese demografische Entwicklung wird komplett ausgeblendet“, sagt sie. „In einem Land mit wirtschaftlicher Unsicherheit, kaum Kinderbetreuung und einem überteuerten Bildungssystem wundert es nicht, dass viele keine Kinder wollen.“
Bildung teuer, Jugend arbeitslos
Die wirtschaftliche Lage verschärft die Problematik: Seit vier Jahren leidet die Türkei unter hoher Inflation, Bildungsausgaben stiegen allein im letzten Jahr um über 70 Prozent. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei 8,2 Prozent, bei Jugendlichen sogar bei 15 Prozent – laut Gewerkschaftsforschern der DISK real sogar bei 37,5 Prozent.
Statt struktureller Lösungen fokussiert die Regierung sich auf medizinische Eingriffe: Die hohe Zahl an geplanten Kaiserschnitten – landesweit 61 Prozent, in privaten Kliniken bis zu 78 Prozent – soll eingedämmt werden. Im April wurde ein Verbot für nicht medizinisch notwendige Kaiserschnitte in Privatkliniken verhängt. Denn: Die Methode gilt als geburtenlimitierend, meist auf maximal drei Kinder.
Kaiserschnitt als „sicherer Weg“ – für wen?
Der Istanbuler Gynäkologe Hakan Çöker sieht die Ursachen in der Privatisierung des Gesundheitssystems seit den 1990er-Jahren. Kaiserschnitte seien für Kliniken effizienter – nur 30 Minuten im OP statt bis zu 12 Stunden natürlicher Geburt – und verringerten das Risiko für Klagen.
Harika Bodur, Geburtshelferin in einem Istanbuler Krankenhaus, sagt:
„Viele Frauen äußern schon beim ersten Termin den Wunsch nach einem Kaiserschnitt – aus Angst vor Schmerzen.“ Wenn man das ablehne, gingen sie einfach in eine andere Klinik. Sie sieht die Ursache in mangelnder Aufklärung und einem gestörten Verhältnis zu Sexualität.
Das Gesundheitsministerium will den Anteil der Kaiserschnitte auf 20 Prozent senken – durch mehr Geburtsvorbereitung und Informationskampagnen. Doch die Formulierung „normale Geburt“ sorgt für Kritik, besonders nachdem ein Fußballteam bei einem Ligaspiel ein Transparent mit der Aufschrift „Natürliche Geburt ist normal“ präsentierte.
„Ich entscheide, ob ich Kinder will oder nicht“
Die 23-jährige Chemiestudentin Seçil Murtazaoğlu widerspricht offen den politischen Vorgaben:
„Wenn ich keine Kinder haben will, dann ist das mein gutes Recht.“ Sie kritisiert den eingeschränkten Zugang zu Abtreibung und das neue Kaiserschnitt-Verbot: „Es geht um die Kontrolle und Unterdrückung von Frauen.“
Schon 2012 hatte Erdoğan Abtreibung als „Mord“ bezeichnet, ein Verbot jedoch nicht durchgesetzt. Heute bietet die Regierung zinslose Darlehen von 150.000 Lira (ca. 3.800 Dollar) für Ehepaare und ab dem dritten Kind monatlich 5.000 Lira Unterstützung an. Für Murtazaoğlu ist das nichts anderes als der Versuch, „Frauen zu Gebärmaschinen zu machen.“
Gewalt statt Unterstützung
Auch Aktivistin Berrin Sönmez warnt vor falschen Prioritäten: „Statt reproduktive Rechte einzuschränken, sollte man mit der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen beginnen.“ Doch solche Maßnahmen seien „abgeschafft oder massiv geschwächt worden.“
Während die Regierung von Familie spricht, sehen viele Frauen darin vor allem Kontrolle – und fragen: Wo bleiben Schutz, Gerechtigkeit und echte Wahlfreiheit?
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