Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) steht vor einem personellen wie strategischen Wendepunkt: Nach Informationen des Spiegel und der Tagesschau soll Sinan Selen, bislang Vizepräsident der Behörde, künftig dauerhaft an der Spitze stehen. Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) und die SPD haben sich demnach auf seine Ernennung geeinigt, die Kabinettsbestätigung gilt als Formsache.
Mit dieser Personalie geht es nicht nur um Kontinuität, sondern auch um ein Signal. Selen ist 1972 in Istanbul geboren und wäre der erste Präsident des Inlandsnachrichtendienstes mit türkischen Wurzeln. Seine Karriere erzählt die Geschichte eines Aufstiegs innerhalb des deutschen Sicherheitsapparats – vom Personenschützer für Gerhard Schröder über die Fahndung nach den „Kofferbombern von Köln“ bis hin zur Leitung der Spionageabwehr im BfV.
Analytisch betrachtet kommt seine Ernennung in einer Phase, in der die innere Sicherheit Deutschlands massiv herausgefordert ist. Zwar bleiben Rechtsextremismus, Islamismus und linke Gewalt relevante Gefahren, doch besonders die Aktivitäten russischer Geheimdienste setzen die Behörde unter Druck. Selen selbst warnte erst im Juni vor der „gesamten Bandbreite von Spionage, Sabotage, Cyberangriffen und Einflussnahme“, die Deutschland bedrohe. Seit Putins Angriff auf die Ukraine 2022 haben diese Aktivitäten deutlich zugenommen.
Die lange Übergangszeit nach dem Abgang von Thomas Haldenwang hatte in den Sicherheitsbehörden zu wachsender Nervosität geführt. Mit Selen übernimmt nun ein erfahrener Insider, der in den letzten Jahren bereits maßgeblich das operative Geschäft geprägt hat. Er plant, den Verfassungsschutz stärker als „Abwehrdienst“ zu positionieren – ein Konzept, das auf eine aktivere und strategischere Verteidigung abzielt. Innenminister Dobrindt hat dafür mehr Ressourcen und erweiterte Befugnisse in Aussicht gestellt.
Selen bringt nicht nur fachliche Erfahrung aus mehr als zwei Jahrzehnten im Staatsdienst mit, sondern auch eine biografische Dimension, die in Zeiten gesellschaftlicher Polarisierung Symbolkraft besitzt. Seine Ernennung könnte daher auch als Botschaft verstanden werden: Die Sicherheit der Republik liegt in den Händen eines Mannes, der selbst für Integration und Aufstiegschancen in Deutschland steht.

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