Der inhaftierte frühere Vorsitzende der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtaş, hat der türkischen Regierung vorgeworfen, die gesellschaftliche Versöhnung im Rahmen des laufenden Friedensprozesses mit kurdischen Gruppen zu vernachlässigen. In einem Gastbeitrag auf der Nachrichtenseite T24 erklärte Demirtaş, es seien bislang keine ernsthaften Schritte unternommen worden, um das „Gefühl der Brüderlichkeit zwischen Kurden und Türken“ wiederherzustellen.
„Das entscheidende Konzept des Prozesses sind nicht die Waffen, sondern die Brüderlichkeit“, schrieb Demirtaş aus seiner Zelle im Gefängnis von Edirne, wo er seit 2016 wegen mutmaßlicher Terrorvorwürfe inhaftiert ist. „Die Waffen müssen verschwinden, weil sie gegen das Gesetz der Brüderlichkeit verstoßen. Gleichzeitig müssen Recht und Gefühl der Brüderlichkeit wiederhergestellt werden. In dieser Hinsicht wurde bislang kein einziger wirksamer, ergebnisorientierter Schritt unternommen.“
Seine Äußerungen erfolgen acht Monate, nachdem die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) angekündigt hatte, nach einem Aufruf ihres inhaftierten Anführers Abdullah Öcalan ihre Waffen niederzulegen und den Übergang zu einer demokratischen politischen Bewegung einzuleiten. Seitdem zieht sich die PKK aus der Türkei in den Nordirak zurück, während eine parlamentarische Kommission an rechtlichen und politischen Reformen im Zusammenhang mit der Friedensinitiative arbeitet.
Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat sich in diesem Jahr bereits dreimal mit Delegationen der Demokratie- und Gleichheitspartei (DEM-Partei) getroffen und den Prozess als „historische Chance“ bezeichnet, den seit vier Jahrzehnten andauernden Konflikt mit mehr als 40.000 Toten zu beenden. Demirtaş’ Artikel deutet jedoch auf wachsende Unzufriedenheit innerhalb der kurdischen Politik hin – sowohl mit der Regierung als auch mit der eigenen Partei.
Er kritisierte, dass symbolische Gesten der Annäherung – etwa gemeinsame Veranstaltungen, Gedenkbesuche oder kulturelle Initiativen – ausgeblieben seien. Stattdessen habe man sich auf politische Parolen und gegenseitige Anschuldigungen beschränkt.
Demirtaş schlug konkrete Vertrauensbildungsmaßnahmen vor: Besuche an den Gräbern bedeutender türkischer und kurdischer Persönlichkeiten, gemeinsame Kulturfeste oder Freundschaftsspiele zwischen regionalen Fußballmannschaften.
Besonders Aufmerksamkeit erregte sein Vorschlag, dass Jugendliche aus Edirne und Hakkari sich am Anıtkabir, dem Mausoleum von Mustafa Kemal Atatürk, treffen könnten, um in Türkisch und Kurdisch eine „Erklärung der Brüderlichkeit“ zu verlesen und ins Gästebuch einzutragen.
„All das wurde nicht getan“, schrieb Demirtaş. „Stattdessen gab es viel Zuhören, unnötige Parolen, Beleidigungen und Drohungen. Die Operationen gegen die Opposition, insbesondere gegen die CHP, haben die Spaltung vertieft. Keine einzige unter Zwangsverwaltung stehende Gemeinde wurde den Bürgern zurückgegeben. Statt die kurdisch-türkische Brüderlichkeit zu stärken, wurde die türkisch-türkische Spaltung noch vergrößert.“
Seine Kritik an den Operationen gegen die größte Oppositionspartei CHP spielt auf die anhaltenden Ermittlungen und Festnahmen nach der Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu im März an.
Beobachter werten den Beitrag als Wendepunkt in Demirtaş’ Haltung: Während er zuvor den Friedensprozess vorsichtig unterstützt hatte, richtet sich seine Kritik nun auch gegen die eigene Partei. Der Journalist Mehmet Tatlı schrieb, Demirtaş habe sowohl die Regierung als auch die DEM-Partei wegen „leerer Parolen“ und fehlender Initiative kritisiert. Sein erstmaliger Bezug auf den Anıtkabir habe dabei symbolische Bedeutung – ein Versuch, Brücken zwischen säkularen und konservativen Bevölkerungsteilen zu schlagen.
Die Reaktionen auf den Artikel fielen unterschiedlich aus:
DEM-Parteiabgeordnete Meral Danış Beştaş lobte Demirtaş dafür, „die bittere Wahrheit ausgesprochen“ zu haben, und versprach, den Weg des Friedens weiterzugehen. Der kurdische Journalist Sinan Aygül hingegen bezeichnete den Text als naiv: Der Begriff „Brüderlichkeit“ verschleiere, dass es sich um einen nationalen Konflikt zweier Völker handle.
Am Ende seines Beitrags reflektierte Demirtaş seine Haftbedingungen:
„Ich schreibe als Freund des Friedens und der Brüderlichkeit – gemeinsam mit meinem einzigen Zellengenossen, Adnan Selçuk Mızraklı, dem gewählten Bürgermeister von Diyarbakır, der 2019 abgesetzt und durch einen Treuhänder ersetzt wurde. Wenn ich ihn in unserer zwölf Quadratmeter großen Zelle ansehe, schreibe ich weiter – mit Hoffnung und Entschlossenheit, unseren Kampf fortzuführen.“

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