Was passiert gerade in der Türkei? Die Hintergründe

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Ebru Kaymak

Am 19. März wurde Ekrem İmamoğlu aufgrund zweier Ermittlungen festgenommen, die ihm Korruption und die “Unterstützung einer Terrororganisation” vorwerfen. İmamoğlu, der als größter politischer Rivale Erdoğans gilt, wurde am 23. März im Rahmen der Korruptionsermittlung in Untersuchungshaft genommen. Seither kommt es in der Türkei zu Massenprotesten, die insbesondere von jungen Menschen und Student:innen organisiert werden. Die Regierung reagiert darauf mit harter Polizeigewalt.

Politische Motive hinter der Festnahme

Laut Journalist Tarık Toros, der seit 2016 in Großbritannien lebt, liegt der wahre Grund für die Verhaftung İmamoğlus nicht in den offiziellen Korruptionsvorwürfen, sondern in dessen politischer Bedeutung. Seit 2019 ist İmamoğlu Bürgermeister von Istanbul und gilt als eine der wenigen Figuren, die Erdoğan bei Wahlen ernsthaft gefährlich werden könnten. Bereits vor den Präsidentschaftswahlen 2023 wurde ihm durch ein umstrittenes Gerichtsverfahren ein politisches Betätigungsverbot auferlegt, wodurch er als möglicher Kandidat aus dem Rennen genommen wurde. Nach Erdoğans Wahlsieg intensivierten sich die juristischen Angriffe: Neben den Korruptionsvorwürfen wurde sogar die Echtheit seines Universitätsabschlusses infrage gestellt.

Toros sieht in der Justiz nicht mehr eine unabhängige Instanz, sondern ein Werkzeug in den Händen des Präsidenten. „Es geht hier nicht um Recht und Ordnung, sondern um die Eliminierung eines politischen Gegners“, erklärt er.

Wirtschaftliche und gesellschaftliche Erschütterungen

Die Festnahme İmamoğlus hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die türkische Wirtschaft. Die Finanzmärkte reagierten umgehend: Die Währung verlor rapide an Wert, während die Börse stark einbrach. Die Zentralbank versuchte, durch den Verkauf von etwa 30 Milliarden Dollar innerhalb einer Woche eine Stabilisierung zu erreichen.

Gleichzeitig entwickelte sich eine Protestwelle, die am 19. März in landesweiten Demonstrationen gipfelte. Besonders junge Menschen und Student:innen fühlten sich durch die Festnahme İmamoğlus in ihrer Frustration bestätigt. Die Demonstrationen blieben nicht auf die Straßen beschränkt: Parallel entstand eine Boykottbewegung gegen wirtschaftliche und mediale Institutionen, die als regierungsnah gelten. Laut Toros war dieser wachsende Druck einer der Hauptgründe dafür, dass die Regierung von der Einsetzung eines Treuhänders für die Istanbuler Stadtverwaltung absah.

Erdoğan und die Legitimitätskrise

Laut Exil-Journalist Bedrettin Uğur war die gesellschaftliche Opposition in der Türkei lange auf der Suche nach einer Plattform, um ihren Unmut auszudrücken. Die Verhaftung von İmamoğlu hat nun genau diese Plattform geschaffen. Besonders junge Menschen, die ohnehin keine wirtschaftlichen Perspektiven haben und oft gezwungen sind, das Land zu verlassen oder sich mit schlecht bezahlten Jobs zufriedenzugeben, fanden in den Protesten eine Möglichkeit, sich politisch zu artikulieren.

Erdoğan sieht sich einer neuen Bedrohung gegenüber: Seine größte politische Waffe war es stets, sich auf Wahlergebnisse zu berufen und daraus seine Legitimität abzuleiten. Doch die Proteste untergraben dieses Narrativ. Laut Uğur sei das entscheidende Element nicht einmal der Unmut der Opposition, sondern die lautstarke Ablehnung Erdoğans durch die Bevölkerung, die sich bisher nicht aktiv politisch geäußert habe.

Die Proteste und die Wirtschaftskrise könnten Erdoğan dazu zwingen, Zugeständnisse zu machen. Doch gleichzeitig wird er versuchen, seine Macht durch verstärkte Repression zu sichern. Die Regierung reagierte bereits mit unverhältnismäßiger Gewalt: Festnahmen, Foltervorwürfe und entwürdigende Durchsuchungen sind an der Tagesordnung. Diese Methoden sind nicht neu, doch sie betreffen nun eine breitere Bevölkerungsschicht. Die Menschenrechtsverletzungen lassen sich nicht mehr verbergen und werfen einen dunklen Schatten auf die Geschichte der Türkei.

Steht die Türkei vor einem Wendepunkt?

Laut Bedrettin Uğur erlebt die türkische Gesellschaft derzeit eine Welle des „ansteckenden Mutes“. Immer mehr Menschen finden den Mut, sich zu äußern und aktiv zu werden. Die Regierung versucht, diese Bewegung zu diskreditieren, doch Uğur ist überzeugt, dass sich ein grundlegender Wandel ankündigt.

„Die dunkelste Stunde der Nacht ist die, die dem Sonnenaufgang am nächsten ist“, zitiert Uğur ein Sprichwort. Als Journalist wolle er keine übermäßige Hoffnung verbreiten, doch die derzeitige Lage sei auf Dauer nicht haltbar. Die Türkei ist kein klassisches Nahost-Land, sondern hat eine lange Tradition des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der politischen Vielfalt. Die momentane Krise sei vielleicht nur eine vorübergehende Phase, eine Art Sonnenfinsternis.

Tarık Toros ist sich sicher, dass das Jahr 2025 turbulent verlaufen wird: „Wir stehen erst am Anfang eines unvorhersehbaren Prozesses, dessen Entwicklung niemand genau vorhersagen kann. Doch wir verfolgen die Geschehnisse mit mehr Aufmerksamkeit und Spannung als je zuvor.“

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