Am Abend des 1. Mai wurde der türkische Whistleblower Cemil Önal auf der Terrasse eines Hotels im niederländischen Rijswijk bei Den Haag erschossen – mutmaßlich Opfer einer gezielten Auftragsmordaktion. Önal hatte zuletzt ein weit verzweigtes Korruptions- und Geldwäschenetzwerk offengelegt, das angeblich bis in höchste Kreise der türkischen Regierung reicht.
Zeugen zufolge wurde der 41-Jährige auf offener Straße von einem in Schwarz gekleideten Täter aus nächster Nähe erschossen. Der Täter floh unmittelbar nach der Tat, offenbar mit einem Komplizen in der Nähe. Die niederländische Polizei bestätigte am Freitag, dass es sich bei dem Opfer um einen türkischen Staatsbürger handele und behandelt den Fall als gezielte Tötung. Ein Team aus 20 Ermittlern wurde mit dem Fall betraut.
Vom Finanzberater zum Staatsfeind
Önal war einst Finanzchef des berüchtigten türkisch-zypriotischen Casino-Magnaten Halil Falyalı, der 2022 selbst in einem bis heute ungeklärten Mordfall ums Leben kam. In der Türkei wurde Önal als mutmaßlicher Drahtzieher dieses Mordes gesucht. INTERPOL hatte auf Betreiben Ankaras einen internationalen Haftbefehl gegen ihn erlassen. Nach seiner Festnahme in den Niederlanden im Dezember 2023 verweigerte ein niederländisches Gericht im März 2025 die Auslieferung, da ihm in der Türkei keine faire Behandlung drohte.
Nach seiner Freilassung begann Önal, mit internationalen Medien und Ermittlungsbehörden zusammenzuarbeiten. In Interviews mit dem Organized Crime and Corruption Reporting Project (OCCRP) sowie der Zeitung Bugün Kıbrıs erhob er schwere Vorwürfe: Falyalıs Organisation habe ein globales Netzwerk für illegales Online-Glücksspiel und Geldwäsche betrieben – mit Einnahmen von über 80 Millionen US-Dollar monatlich. Diese Gelder seien über Banken, Kryptowährungen, Goldgeschäfte und Strohfimen gewaschen worden.
Belastende Aussagen gegen türkische Spitzenpolitiker
Önal zufolge wurde ein Teil der Einnahmen in bar als „Sponsoring“ an hochrangige Beamte und Politiker in der Türkei und Nordzypern verteilt – etwa 15 Millionen Dollar monatlich. Er beschuldigte unter anderem den ehemaligen Innenminister Süleyman Soylu, den früheren Vizepräsidenten Fuat Oktay sowie den Erdoğan-Vertrauten Maksut Serim und dessen Sohn Yasin Ekrem Serim, Schmiergeld angenommen zu haben. Immobiliengeschäfte zu überhöhten Preisen hätten als Tarnung gedient.
Darüber hinaus berichtete Önal über ein geheimes Archiv aus 45 Erpressungsvideos, das Falyalı angelegt haben soll – mit kompromittierendem Material über Angehörige führender Politiker. Die angeblichen Inhalte: intime Aufnahmen, die als Druckmittel gegen regierungstreue Akteure dienten. 40 dieser Aufnahmen seien 2024 von Yasin Ekrem Serim, damals Botschafter Nordzyperns, im Auftrag Ankaras sichergestellt und nach Istanbul gebracht worden. Fünf Bänder gelten als verschollen.
Laut Önal sollen sich unter den auf diesen Videos belasteten Personen auch Erkam Yıldırım, Sohn des ehemaligen Premiers Binali Yıldırım, sowie Halit Fidan, Verwandter des heutigen Außenministers Hakan Fidan, befinden. Önal zufolge sei sogar Erdoğan selbst eingeschritten, um den Verbleib der Bänder zu klären. Im Februar 2025 wurden sowohl Serim als Botschafter als auch sein Vater als Präsidentenberater ohne Angabe von Gründen entlassen.
Warnung vor dem Tod – und tödliches Schweigen
In seinem letzten Interview warnte Önal: „Ich bin eine Blackbox. Und sie werden mich zum Schweigen bringen wollen.“ Nur zwei Tage vor seinem Tod erhielt die Journalistin Ayşemden Akın, die seine Enthüllungen veröffentlicht hatte, einen Drohanruf: „Wenn du weitermachst, wirst du sterben“, sagte eine türkischsprachige Anruferin und deutete an, dass ein Killerkommando bereits vor Ort sei. Akın übergab die Aufzeichnung des 27-minütigen Gesprächs an die Polizei in Nordzypern.
Die Enthüllungen lösten in der Türkei politische Nachbeben aus. Oppositionsführer Özgür Özel (CHP) sprach im Parlament von einem „dreckigen Korruptionsnetzwerk mit Zentrum in Nordzypern“, das bis in Erdoğans Umfeld reiche. Trotz der Schwere der Vorwürfe reagierte die Regierung mit Schweigen oder Zurückweisung. Das Präsidialamt sprach von „Verleumdungen“, der Außenminister drohte mit rechtlichen Konsequenzen gegen jene, die die Aussagen verbreiten.
Ein Mord mit politischem Beigeschmack
Der Mord an Cemil Önal wirft neue Fragen zur Sicherheit türkischer Dissidenten im Exil auf. Menschenrechtsgruppen verweisen auf eine wachsende Zahl von Einschüchterungen, Drohungen und Attacken gegen regierungskritische Stimmen im Ausland. Ob türkische Stellen direkt oder indirekt in den Mord verwickelt sind, ist bislang unklar – der politische Kontext und die Brisanz der Enthüllungen lassen jedoch Spekulationen zu.
Während die Ermittlungen in den Niederlanden laufen, steht fest: Mit Cemil Önal wurde ein mutmaßlich zentraler Zeuge im größten Korruptionsskandal der jüngeren türkischen Geschichte zum Schweigen gebracht – unter höchst beunruhigenden Umständen.
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