Eine neue Welle von MeToo-Vorwürfen erschüttert die Türkei. Frauen und Angehörige der LGBTQ+-Gemeinschaft beschuldigen prominente Männer aus Kunst, Medien und Bildungswesen der Belästigung und sexuellen Übergriffe.
Seit Anfang August werden die Berichte vor allem über soziale Medien verbreitet. Zahlreiche Verlage, Produktionsfirmen und Schulen haben daraufhin die Zusammenarbeit mit bekannten Persönlichkeiten beendet. Der Aufruhr erinnert an die weltweite Abrechnung, die 2017 in den Vereinigten Staaten begann, und zugleich an die erste MeToo-Welle in der Türkei im Jahr 2020, als Schriftsteller des Missbrauchs bezichtigt wurden und 62 Nichtregierungsorganisationen eine gemeinsame Solidaritätserklärung mit den Betroffenen abgaben.
Diesmal sind die Enthüllungen breiter angelegt. Sie betreffen nicht nur die Literatur, sondern auch Film, Fernsehen, Musik, Fotografie, Kabarett, Journalismus und den Schulbetrieb.
Auslöser der jüngsten Anschuldigungen waren Vorwürfe gegen Starfotografen, die Frauen zu Nacktaufnahmen gedrängt oder intime Bilder ohne deren Zustimmung verbreitet haben sollen. Nach Angaben türkischer Medien wurden mehr als 20 Fotografen und Künstler namentlich genannt. Unter ihnen Mesut Adlin, dem vorgeworfen wird, einer Minderjährigen unangemessene Nachrichten geschickt zu haben. Nachdem entsprechende Bildschirmaufnahmen kursierten, sagte die Musikgruppe Manifest ein geplantes Projekt mit ihm ab. Adlin bestritt ein Fehlverhalten, räumte jedoch „mangelndes Urteilsvermögen“ ein.
Kurz darauf berichteten Schauspielerinnen von Belästigungen durch männliche Kollegen an Fernsehsets. Ein renommiertes Istanbuler Theater soll einen Regisseur gedeckt haben, der Studierende zu Nacktproben nötigte und ihnen bei Weigerung berufliche Nachteile androhte. Die Schauspielergewerkschaft erklärte, Beschwerden erhalten und ein Disziplinarverfahren eingeleitet zu haben.
Besonders sichtbar war die Erschütterung in der Comedy- und Medienbranche. Mehrere Frauen beschuldigten Mesut Süre, einen populären Stand-up-Komiker und langjährigen Moderator der Fernseh- und Radiosendung İlişki Testi („Beziehungstest“), der Belästigung und des versuchten Übergriffs. Eine Frau schilderte, sie sei unter dem Vorwand eines Jobgesprächs in seine Wohnung eingeladen und dort auf ein Sofa gedrängt worden, habe jedoch entkommen können. Die Produktionsfirma İda İletişim beendete die Zusammenarbeit mit Süre und erklärte ihre Solidarität mit den Betroffenen. Süre wies die Vorwürfe zurück, sprach von einem „Prozess in sozialen Medien“ und kündigte rechtliche Schritte an.
Auch die Literaturszene blieb nicht unberührt. Kültigin Kağan Akbulut, Gründer des Kulturmagazins Argonotlar, räumte ein, bei einer Veranstaltung eine Kollegin belästigt zu haben. Er legte alle Ämter nieder, das Magazin stellte sein Erscheinen ein und erklärte, eine Entschuldigung genüge nicht. Die Redaktion kündigte an, sämtliche Verbindungen zu genannten Mitarbeitern zu kappen. Zudem veröffentlichten 178 Autorinnen und Herausgeberinnen eine Solidaritätserklärung, in der es hieß, Täter würden „nicht in Vergessenheit geraten“.
Die Welle erreichte auch Schulen. In Izmir warf eine 18-jährige Absolventin einem 17-jährigen Schüler eines anderen Elitegymnasiums im Juli Vergewaltigung und Misshandlung vor. Ihre Anzeige sei wochenlang verschleppt worden, trotz einer einstweiligen Verfügung. Schließlich machte sie den Fall öffentlich. Schülerinnen und Absolventen beider Schulen stellten sich hinter sie und forderten den Ausschluss des Beschuldigten aus ihrer Gemeinschaft. Erst die öffentliche Aufmerksamkeit führte dazu, dass die Behörden die Ermittlungen wieder aufnahmen.
An der Istanbuler İstinye-Universität beschuldigten Studierende einen Professor, weibliche und LGBTQ+-Studierende belästigt und ihnen bei Widerstand mit schlechten Noten gedroht zu haben. Sie verlangten seine Entlassung und die Einrichtung einer Stelle zur Unterstützung von Opfern. Die Universitätsleitung äußerte sich bisher nicht, doch der Druck wächst.
Die Enthüllungen erinnern an 2020, als Vorwürfe gegen einen Romanautor zahlreiche Nichtregierungsorganisationen dazu veranlassten, Betroffenen Mut zuzusprechen. Damals nahm sich einer der Beschuldigten das Leben – eine Entwicklung, die eine hitzige Debatte über Verantwortung und Schuldzuweisungen auslöste.
In diesem Jahr jedoch sprechen Aktivisten von einer breiteren und tiefergehenden Dimension. Sie verweisen auf eine „strukturelle Straflosigkeit“ in der Türkei, wo die Polizei Beschwerden ignoriere und Gerichte Tätern Milde gewährten. Menschenrechtsgruppen kritisieren weiterhin den 2021 erfolgten Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention, einem europäischen Abkommen zum Schutz von Frauen vor Gewalt.
Gleichzeitig reagieren Institutionen schneller als früher. Verlage, Gewerkschaften und Produktionsfirmen haben sich von Beschuldigten distanziert. Studierendeninitiativen nennen mutmaßliche Täter öffentlich beim Namen und fordern strukturelle Veränderungen.
New wave of #MeToo allegations rocks Turkey’s arts, media and schools

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