Türkei: Vom „Modell muslimischer Demokratie“ zum Narco-Staat

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Einst als „türkisches Modell von Islam und Demokratie gefeiert, hat sich die Türkei in den letzten Jahren zu einem globalen Kokain-Drehkreuz entwickelt. Unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seinem Bündnispartner Devlet Bahçeli (MHP) ist ein narco-autoritäres System entstanden, in dem Macht, Repression und Kriminalität zu einer einzigen Struktur verschmelzen. Eine Analyse von Hakkı Taş (GIGA) zeigt, wie Autoritarismus und organisierte Kriminalität in der Türkei ineinandergreifen – und warum Europa nicht länger wegsehen kann.

Der Global Organized Crime Index (GIATOC 2023), der die Länder anhand von vier Arten krimineller Akteure bewertet, zeigt: Die Türkei liegt weltweit auf Platz sieben bei staatlich eingebetteten Akteuren und auf Platz neun bei mafiösen Gruppen. Damit zählt sie zu den am stärksten von Kriminalität durchdrungenen Staaten weltweit. Zugleich belegt das Land bei Transparenz und Geldwäschebekämpfung die hinteren Plätze (162 und 177).

Zentrale Erkenntnisse aus der GIGA-Analyse von Hakkı Taş:

1. Staat und Unterwelt sind keine Gegensätze mehr – sie sind Verbündete.
Das AKP-MHP-Bündnis hat Mafiabosse rehabilitiert und ihnen politische Deckung gegeben. Figuren wie Alaattin Çakıcı oder Sedat Peker stehen exemplarisch für diese Verschmelzung: Einst verurteilt, später hofiert und sogar als politische Akteure instrumentalisiert.

→ „In der Türkei ist die Mafia keine Herausforderung für den Staat mehr – sie ist der Staat.“

2. Die Türkei ist kein Transitland mehr, sondern ein aktiver Akteur im globalen Kokainhandel.
Laut UN und GIATOC stiegen die Kokainbeschlagnahmungen seit 2014 um das Siebenfache. Türkische Netzwerke arbeiten mit mexikanischen und kolumbianischen Kartellen zusammen. Gleichzeitig florieren Meth- und Captagon-Produktionen, teils über syrische Routen in die Golfstaaten.

3. Die Rechtsstaatlichkeit wurde systematisch ausgehöhlt. Seit den Säuberungen nach dem Putschversuch 2016 und der Einführung des Präsidialsystems 2018 kontrolliert Erdoğan die Justiz. Die Strafverfolgung ist selektiv, politisiert und korruptionsanfällig.

Beispiel: Das „FETÖ-Borsa“-System, bei dem sich Verdächtige von Terrorlisten „freikaufen“ konnten.

4. Steueramnestien, goldene Visa und Kapitalflucht machten die Türkei zum Geldwaschplatz.
Zwischen 2016 und 2023 nutzten internationale Kriminelle Steuer- und Vermögensamnestien, um Milliarden an Schwarzgeld zu legalisieren. Über das Programm „Citizenship by Investment“ erhielten Drogenhändler und Menschenhändler türkische Pässe – darunter Rawa Majid, Nenad Petrak und Joseph Leijdekkers.

5. Mafia und Autoritarismus stützen sich gegenseitig.
Die Regierung nutzt kriminelle Netzwerke als informelle Vollstrecker im Inland – gegen Oppositionelle, Akademiker oder Minderheiten – und im Ausland als Instrumente geopolitischer Einflussnahme (z. B. Waffenlieferungen nach Syrien).

→ Autoritarismus funktioniert hier nicht trotz organisierter Kriminalität, sondern durch sie.

Der lange Schatten des „tiefen Staates“

Taş zeichnet die Linie von den Heroingeschäften der 1970er-Jahre, über den Susurluk-Skandal 1996 – als bei einem Autounfall ein Politiker, ein Polizist und ein Gangster zusammen im Auto saßen – bis zur heutigen narco-autoritären Ordnung. Der Begriff derin devlet („tiefer Staat“) bleibt aktuell, nur dass er nun offen institutionalisiert ist.

Gesellschaftliche Folgen: Gewalt, Angst und Normalisierung

Das Beispiel des ermordeten Teenagers Mattia Ahmet Minguzzi in Istanbul verdeutlicht, wie mafiöse Jugendgangs („Daltonlar“) über TikTok rekrutieren und ganze Viertel kontrollieren. Erst als Mafiaboss Sedat Peker sich öffentlich auf die Seite der Familie stellte, endeten die Drohungen.
→ Die Mafia ersetzt staatliche Schutzfunktionen – sie definiert, was Gerechtigkeit bedeutet.

Internationale Dimension: Spillover nach Europa

Türkische Clans sind heute zentraler Bestandteil europäischer Kokainnetzwerke – aktiv in Berlin, Rotterdam, Antwerpen, Barcelona und London. Europol bezeichnet türkische Akteure als „Schlüsselmitglieder polykrimineller Netzwerke, die Drogen, Geldwäsche und Waffenhandel miteinander verknüpfen.

Takeaway: Europa bekommt die Folgen der türkischen Narco-Politik längst im eigenen Hinterhof zu spüren.

Taş warnt: Die EU habe Demokratisierung in den Beziehungen zur Türkei zugunsten migrationspolitischer Pragmatik vernachlässigt. Das fördere eine toxische Allianz aus Autoritarismus und organisierter Kriminalität.
Er fordert drei Prioritäten:

  1. Unabhängige Justiz wiederherstellen – Schutz von Staatsanwälten und Richtern vor politischer Einflussnahme.
  2. Europäische Kooperation vertiefen – durch Europol, Eurojust und gemeinsame Ermittlungen mit Lateinamerika.
  3. Zivilgesellschaft und unabhängige Medien stärken – um Transparenz und Rechenschaftspflicht zu sichern.

„Autoritarismus tritt nie allein auf – er kommt im Gesamtpaket mit Korruption, Repression und Kriminalität.“

Hakkı Taş’ Analyse ist mehr als eine Zustandsbeschreibung: Sie ist eine Warnung. Die Türkei ist zum Labor eines neuen autoritären Modells geworden, das Kriminalität nicht bekämpft, sondern nutzt. Europa riskiert, selbst Teil dieses Systems zu werden, wenn es die Verflechtung von Macht und Mafia weiter als türkisches „Innenproblem“ behandelt.

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