Merz kritisiert türkische Justiz – Schlagabtausch mit Erdoğan über Gaza während Ankara-Besuch

0

Der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz hat während seines offiziellen Besuchs in Ankara die Unabhängigkeit der türkischen Justiz kritisiert und sich mit Präsident Recep Tayyip Erdoğan über die gegensätzlichen Positionen zum Krieg in Gaza auseinandergesetzt.

Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz nach den Gesprächen sagte Merz, der seit Mai 2025 im Amt ist, er habe seine Bedenken hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei angesprochen – insbesondere im Fall des inhaftierten Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu, den Kritiker als politisch motiviert einstufen.

„Es gibt Entscheidungen in der Türkei, die noch nicht den rechtsstaatlichen und demokratischen Standards entsprechen, wie wir sie aus europäischer Sicht verstehen“, sagte Merz. „Ich habe auch meine Sorge darüber geäußert, dass es hier Fragen gibt, die unseren Erwartungen nicht entsprechen – etwa hinsichtlich der Unabhängigkeit der Justiz. Doch das ist Gegenstand unserer laufenden Gespräche.“

İmamoğlu gilt als wichtigster politischer Rivale Erdoğans und sitzt seit März in Untersuchungshaft wegen Korruptionsvorwürfen. Seine Festnahme löste die größten Proteste seit den Gezi-Park-Demonstrationen von 2013 aus.

Vor seiner Reise war Merz in Deutschland unter Druck geraten, die Menschenrechtslage in der Türkei offen anzusprechen. Human Rights Watch forderte ihn am Mittwoch auf, die Repression gegen Opposition und Medien nicht zu übersehen. Auch SPD-Abgeordneter Ralf Stegner mahnte, Merz solle die neu erhobenen „politischen Spionagevorwürfe“ gegen İmamoğlu thematisieren.

„Der neue Haftbefehl zeigt, dass die innenpolitische Lage in der Türkei weiterhin angespannt ist“, sagte Stegner gegenüber der DPA.

Merz betonte, dass der Weg der Türkei in Richtung Europa nur bei Einhaltung der Kopenhagener Kriterien möglich sei, die Demokratie, Menschenrechte und richterliche Unabhängigkeit voraussetzen:

„Die Entscheidungen der Türkei müssen diesen Bedingungen entsprechen“, sagte er.

Trotz des EU-Beitrittskandidatenstatus seit 1999 sind die Beitrittsverhandlungen seit Jahren faktisch eingefroren – vor allem wegen der Menschenrechtslage, der politischen Entwicklung und des ungelösten Zypern-Konflikts.

Erdoğan wies die Kritik zurück: „Die Türkei ist kein gewöhnliches europäisches oder asiatisches Land. Wir sind eine Demokratie, in der alle Prozesse ordnungsgemäß funktionieren“, sagte er. „Wer gegen das Gesetz verstößt, wird – unabhängig von seiner Position – zur Rechenschaft gezogen.“

Der Fall İmamoğlu verlaufe „im Rahmen des Rechtsstaates“, so Erdoğan weiter.

Scharfer Schlagabtausch über Gaza

Deutliche Meinungsverschiedenheiten zeigten sich auch beim Thema Gaza-Krieg.

Merz bekräftigte Deutschlands Haltung, wonach Israel das Recht auf Selbstverteidigung habe. Der Konflikt hätte längst beendet werden können, sagte er, „wenn Hamas die Geiseln freigelassen und die Waffen niedergelegt hätte“.

Erdoğan reagierte scharf und warf Israel „Massaker“ vor: „Mehr als 60.000 Frauen, Kinder und ältere Menschen wurden durch israelische Bomben ermordet“, sagte er. „Sehen Sie das in Deutschland nicht? Folgen Sie den Ereignissen nicht?“

Er bezeichnete die Lage in Gaza als „Völkermord“, bei dem über 68.000 Menschen getötet worden seien, und warf westlichen Ländern, darunter Deutschland, Doppelmoral vor: „Gaza wird durch Hunger und Völkermord ausgelöscht.“

Merz dankte Erdoğan hingegen für die Rolle der Türkei bei der Waffenruhe vom 10. Oktober, die gemeinsam mit den USA, Ägypten, Katar und der Türkei vermittelt wurde, und äußerte die Hoffnung, dass Ankara Hamas zu weiteren Schritten bewegen könne.

Verteidigungs- und Migrationspolitik im Fokus

Trotz der Differenzen betonten beide Seiten die Zusammenarbeit in Verteidigungs- und Migrationsfragen.

Merz begrüßte die türkische Entscheidung, 20 Eurofighter-Jets aus Großbritannien zu kaufen, was „die kollektive Sicherheit der NATO angesichts der russischen Bedrohung“ stärken werde.

„Russlands revisionistische Politik gefährdet die euro-atlantische Sicherheit insgesamt“, sagte Merz.

Der Vertrag über den Kauf wurde Anfang der Woche während des Besuchs des britischen Premierministers Keir Starmer in Ankara unterzeichnet. Das von Airbus, BAE Systems und Leonardo produzierte Kampfflugzeug soll Teil einer größeren Verteidigungskooperation werden.

Ankara hofft zudem auf deutsche Unterstützung, um Zugang zum EU-Sicherheitsfonds SAFE im Umfang von 150 Milliarden Euro zu erhalten – ein Vorhaben, das Griechenland bislang blockiert.

Schließlich suchte Merz auch türkische Kooperation bei der Rückführung abgelehnter Asylbewerber und bei möglichen Abschiebungen nach Syrien. Deutschlands Außenminister Johann Wadephul hatte am Vortag in Damaskus Gespräche mit Präsident Ahmed al-Sharaa geführt.

Die Begegnung zwischen Merz und Erdoğan verdeutlichte die angespannte, aber unverzichtbare Beziehung zwischen Berlin und Ankara – zwischen Kritik an Demokratie und Menschenrechten einerseits und sicherheits- sowie migrationspolitischen Interessen andererseits.

No comments