Türkische Maßnahmen gegen Inflation reichen nicht aus, warnen Experten

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Obwohl die Inflation in der Türkei im September leicht zurückging, bleibt sie außer Kontrolle. Die Regierung meidet notwendige, aber schwierige Entscheidungen, die das Problem tatsächlich angehen könnten, berichteten Experten der Nachrichtenagentur AFP.

Die Türkei erlebte in den letzten zwei Jahren eine stark steigende Inflation, die im Oktober 2022 bei 85,5 Prozent und im Mai 2023 bei 75,45 Prozent ihren Höhepunkt erreichte.

Die Regierung gibt an, die Inflationsrate im September auf 49,4 Prozent gesenkt zu haben. Doch diese Zahl wird von der unabhängigen Ökonomen-Gruppe ENAG bestritten, die für den gleichen Zeitraum eine Inflation von 88,6 Prozent schätzt.

Finanzminister Mehmet Şimşek erklärte, dass Ankara beabsichtige, die Inflation bis Ende 2025 auf 17,6 Prozent und bis 2026 auf einen einstelligen Wert zu senken. Präsident Recep Tayyip Erdoğan lobte kürzlich den Erfolg der Türkei, den „Prozess der dauerhaften Disinflation eingeleitet“ zu haben. „Die schweren Zeiten sind vorbei“, sagte er.

Ökonomen, die AFP interviewte, wiesen jedoch darauf hin, dass der Anstieg der Verbraucherpreise in der Türkei inzwischen „chronisch“ sei und durch bestimmte Maßnahmen der Regierung noch verschärft werde.

Basiseffekt, aber kein Erfolg

„Der aktuelle Rückgang ist lediglich ein Basiseffekt. Die monatlichen Preissteigerungen bleiben hoch: landesweit 2,97 Prozent und in Istanbul 3,9 Prozent. Das kann man nicht als Erfolgsgeschichte bezeichnen“, sagte Mehmet Şişman, Wirtschaftsprofessor an der Marmara-Universität in Istanbul.

„Haushaltslücken“ und strukturelle Probleme

Im Gegensatz zur üblichen wirtschaftlichen Praxis, die Zinsen zu erhöhen, um die Inflation zu bremsen, verfolgt Erdoğan seit langem eine Politik der Zinssenkungen und beruft sich dabei auf islamische Prinzipien, die Wucher verbieten. Dies führte zu einem Verfall der Lira und befeuerte die Inflation weiter.

Nach seiner Wiederwahl im Mai 2023 gewährte Erdoğan der türkischen Zentralbank jedoch die Freiheit, den Leitzins zwischen Juni 2023 und März 2024 von 8,5 auf 50 Prozent anzuheben. Dennoch blieb der Zinssatz im September den sechsten Monat in Folge unverändert.

„Der Kampf gegen die Inflation konzentriert sich auf die Prioritäten des Finanzsektors. Daher erfolgt er indirekt und schafft Unsicherheit“, erklärte Erinç Yeldan, Wirtschaftsprofessor an der Kadir-Has-Universität in Istanbul.

Die Anhebung der Zinsen allein reiche jedoch nicht aus, um die Inflation zu stabilisieren, ohne die massiven Haushaltsdefizite anzugehen, betonte Yakup Küçükkale, Wirtschaftsprofessor an der Karadeniz-Technischen Universität. Er verwies auf das Rekorddefizit von 129,6 Milliarden Lira (etwa 3,45 Milliarden Euro). „Şimşek sagt, dies sei auf Ausgaben für den Wiederaufbau nach den Erdbeben im Februar 2023 zurückzuführen“, so Küçükkale. Doch das eigentliche „schwarze Loch“ entstehe durch die teuren öffentlich-privaten Partnerschaften, fügte er hinzu.

Diese Verträge beinhalten den Bau und Betrieb von Autobahnen, Brücken, Krankenhäusern und Flughäfen und sind häufig mit großzügigen staatlichen Garantien verbunden, etwa bei einer Unterauslastung. „Wir sollten diese Verträge hinterfragen, da sie den Haushalt belasten, weil diese Entschädigungen an den Dollar oder Euro gekoppelt sind“, sagte Küçükkale.

Ungleichheit verschärft sich

Die Anti-Inflationsmaßnahmen träfen oft einkommensschwache Haushalte, da der Mindestlohn seit Januar nicht erhöht wurde, erklärte Küçükkale. „Diese Menschen haben ohnehin wenig Kaufkraft. Maßnahmen zur Senkung der Nachfrage müssten sich auf wohlhabende Gruppen konzentrieren, aber diese werden kaum belastet“, erklärte er.

„Sparmaßnahmen“, wie etwa die Streichung von Reinigungsdiensten an öffentlichen Schulen, träfen vor allem die Schwächsten und verstärkten Ungleichheiten, so Yeldan. Er schlug vor, stattdessen eine „Besteuerung von Vermögen, Finanztransaktionen und Immobilienerträgen“ einzuführen.

Doch die regierende AKP sei auf die Unterstützung „pro-regierungsnaher Unternehmen“ angewiesen, die von den lukrativen Infrastrukturverträgen profitierten, betonte er.

Laut einer Studie der Koç-Universität rechnen Haushalte bis Jahresende mit einer jährlichen Inflation von 94 Prozent – weit über den Prognosen der Zentralbank.

„Die Preissteigerungen, die die Mittel- und Unterschicht betreffen, sind besonders besorgniserregend, da sie grundlegende Güter und Dienstleistungen wie Nahrung, Wohnen und Bildung betreffen, wo die Inflation nach wie vor extrem hoch bleibt“, erklärte Şişman.

Die Unsicherheit über die Zukunft trägt ebenfalls zu den anhaltenden Preissteigerungen bei, da Einzelhändler versuchen, zukünftige Kosten vorherzusagen, so Beobachter. „Die Inflation ist mittlerweile strukturell und dauerhaft in der Türkei. Ohne grundlegende Reformen werden wir in einem Teufelskreis stecken bleiben, wie es bereits in den 1990er-Jahren der Fall war“, sagte Yeldan.



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