Politik der Angst: Wie Erdoğan die Türkei spaltet

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Yasemin Aydın

Wie reagiert eine Gesellschaft, wenn Angst zur Währung der Politik wird? In der Türkei hat Präsident Erdoğan diese Frage längst beantwortet. Durch eine gezielte Manipulation der kollektiven Psychologie nutzt sein Regime die ‚Politik der Angst‘, um abweichende Meinungen zu unterdrücken und die Opposition zu schwächen. Besonders sichtbar wird dies in den jüngsten Fällen prominenter CHP-Politiker wie Ahmet Özer und Rıza Akpolat. 

Der zunehmende Autoritarismus in der Türkei unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan stützt sich nicht nur auf juristische und politische Mittel, sondern auch auf eine gezielte Manipulation der kollektiven Psychologie der türkischen Gesellschaft. Das Erdoğan-Regime nutzt systematisch eine „Politik der Angst“, um abweichende Meinungen zu unterdrücken und den politischen Spielraum der Opposition erheblich einzuschränken. Ein bezeichnendes Beispiel dafür sind die jüngsten Maßnahmen gegen Oppositionsfiguren in Istanbul, darunter Ahmet Özer, Bürgermeister des Bezirks Esenyurt, und Rıza Akpolat, Bürgermeister von Beşiktaş – beide Mitglieder der größten Oppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei (CHP). Özer wurde im Oktober wegen angeblicher Terrorismusvorwürfe verhaftet und seines Amtes enthoben. Akpolat wurde am Montag im Zuge von Ermittlungen zu Ausschreibungsbetrug festgenommen. Diese Ereignisse sind keine Einzelfälle. Sie sind Teil einer bewussten Strategie, ein Klima der Angst zu schüren und die Gesellschaft zu lähmen.

Politik der Angst und sozialer Wandel

Bilder von Akpolat, wie er in Handschellen abgeführt wurde, symbolisieren den eisernen Griff des Regimes über die Opposition. Noch bezeichnender war jedoch die zurückhaltende Reaktion der CHP-Führung. Das Fehlen einer entschlossenen Gegenwehr stärkte das Erdoğan-Regime und signalisierte, dass seine angstgetriebenen Taktiken Wirkung zeigten. Diese „Strategie der Angst“ hat nicht nur das Ziel, oppositionelle Führungspersönlichkeiten zum Schweigen zu bringen, sondern auch breitere gesellschaftliche Reflexe zu unterdrücken, die der autoritären Konsolidierung gefährlich werden könnten. Jedes Vorgehen ist kalkuliert: Die Reaktion  der Gesellschaft – oder das Ausbleiben dieser – werden genau beobachtet, um die nächsten Schritte des Regimes zu planen. 

Die Passivität der CHP-Führung wirkte in keinster Weise wie Widerstand, sondern vielmehr  wie Unterwerfung. Halbherzige öffentliche Stellungnahmen und ineffektive Mobilisierungsversuche der Oppositionsführer unterstützten Erdoğans Strategie, den politischen Raum weiter einzuengen. Noch alarmierender ist die begrenzte öffentliche Reaktion auf diese Entwicklungen. In einem Land, das im Sommer 2013 während der regierungskritischen Gezi-Park-Proteste eine massive Mobilisierung erlebte, verdeutlicht das heutige Schweigen, wie erfolgreich das Regime eine lähmende Atmosphäre der Angst etabliert hat. Dieses Schweigen stärkte nicht nur das Regime, sondern beschleunigte auch die Erosion demokratischer Werte und Institutionen.

Diese Politik der Angst zielt nicht nur darauf ab, individuelles Verhalten zu kontrollieren, sondern auch darauf, die Solidaritätsbande innerhalb der Gesellschaft zu zerstören. Die US-deutsche Historikerin und Philosophin Hannah Arendt betont in ihren Analysen totalitärer Regime, wie Angst als systematisches Werkzeug fungiert: Sie verwandelt sich von einer physischen Bedrohung in eine subtile „innere Zensur“. Während die Bürger die Kriminalisierung von Oppositionsfiguren, den Abbau der richterlichen Unabhängigkeit und die Unterordnung der Justiz unter die Interessen des Regimes beobachten, ziehen sich viele aus Angst um ihre eigene Sicherheit ins Schweigen zurück. Dieser Prozess fragmentiert die Gesellschaft, indem er die für den kollektiven Widerstand notwendigen kommunalen Netzwerke auflöst.

Die „Säuberungsära“ der Tenkil Katastrophe, die nach 2013 in der Türkei begann, verdeutlichte, wie Angst nicht nur individuelle Freiheiten, sondern auch den sozialen Zusammenhalt zerstört – einen Grundpfeiler demokratischer Widerstandsfähigkeit. Das Erdoğan-Regime nahm dabei nicht nur die CHP als Institution ins Visier, sondern griff auch deren soziale Basis an, indem es Anhänger isolierte und politisches Engagement entmutigte. Die Maßnahmen gegen Özer und Akpolat in Oppositionshochburgen wie Beşiktaş und Esenyurt waren Teil einer umfassenderen Strategie, die Zentren oppositionellen Einflusses systematisch zu zerschlagen und politisch handlungsunfähig zu machen.

Verengung des politischen Raums: Die Zerstörung der Opposition

Die Bemühungen des Erdoğan-Regimes, abweichende Meinungen zu unterdrücken, beschränkten sich nicht nur auf die  juristische Verfolgung, sondern zielten auch auf eine systematische Verengung des politischen Raums ab. Dieser Raum ist nicht nur physisch oder institutionell, sondern ist auch eine gesellschaftliche Plattform, auf der Ideen, Kritik und Solidarität Ausdruck finden. Durch die Aushöhlung dieses Raums beraubte das Regime die Opposition ihrer Stimme, ihrer Organisationsfähigkeit, sowie der notwendigen Werkzeuge für die gesellschaftliche Mobilisierung.

Diese Strategie zeigte sich besonders deutlich in gezielten Maßnahmen gegen VertreterInnen der CHP. Mit der Festnahme von Akpolat testete und manipulierte das Erdoğan-Regime gezielt die öffentliche Reaktion. Das weitgehende Ausbleiben eines entschiedenen Widerstands ermutigte das Regime, seine repressiven Maßnahmen weiter zu verschärfen. Persönlichkeiten wie Ekrem İmamoğlu, der populäre Bürgermeister von Istanbul, stehen bereits als nächste Zielscheibe fest – seine mögliche Verhaftung würde nicht nur die Opposition demoralisieren, sondern auch die autoritäre Kontrolle weiter zementieren.

Die Institutionalisierung der Angst und die Normalisierung der Korruption

Das Erdoğan-Regime setzte nicht nur Angst als strategische Waffe ein, sondern normalisierte gleichzeitig Korruption und machte sie von einem strafbaren Vergehen zu einem festen Bestandteil der Regierungsführung. Nach den Korruptionsermittlungen von 2013, in die Erdoğans innerster Kreis verwickelt war, wandelte sich Korruption von einer Schwäche des Regimes zu einem zentralen Instrument der Loyalitätssicherung und Machterhaltung. Ironischerweise bediente sich dasselbe Regime genau dieser Korruptionsvorwürfe, um politische Gegner zu delegitimieren und auszuschalten. 

Diese doppelte Nutzung von Korruption – einerseits als Patronagesystem für Verbündete und andererseits als Waffe gegen Gegner – verdeutlicht die manipulative Dynamik des Regimes. Die Anschuldigungen gegen oppositionelle Bürgermeister wie Akpolat waren keine bloßen juristischen Vorwürfe, sondern bewusst konstruierte Narrative. Sie sollten nicht nur das Ansehen der Opposition beschädigen, sondern auch die allgegenwärtige Korruption des Regimes geschickt verschleiern und eine Fassade der Legitimität schaffen.

Die Falle des Schweigens für Gesellschaft und Opposition

Aus einer anthropologischen Perspektive zeigt sich, dass Erdoğans Strategie der Angst und politischen Unterdrückung nicht nur die individuellen Freiheiten einschränkt, sondern auch die sozialen Kanäle erstickt, durch die eine Gesellschaft sich artikulieren kann. Schweigen ist in diesem Kontext mehr als das bloße Fehlen einer Reaktion – es wird zum Ausdruck einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Zerrüttung. In einem Klima der Einschüchterung verwandelt sich Angst in einen sich selbst verstärkenden Mechanismus, der den Autoritarismus immer weiter vertieft.

Für die CHP und andere Oppositionskräfte liegt die einzige Hoffnung auf Veränderung im Mut, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Es bedarf einer entschlossenen, kollektiven Mobilisierung, um die lähmende Atmosphäre der Angst zu überwinden und den politischen Raum zurückzuerobern. Ein Versäumnis, diese Verantwortung wahrzunehmen, würde nicht nur die autoritären Strukturen des Regimes weiter zementieren, sondern auch die demokratische Zukunft der Türkei nachhaltig gefährden. Die zögerliche Reaktion auf Akpolats Festnahme ist ein warnendes Beispiel: Bleibt diese Untätigkeit bestehen, wird das Regime darin bestärkt, noch radikalere Maßnahmen zu ergreifen und jegliche Möglichkeit des Widerstands vollständig zu ersticken.

Angst als Werkzeug der Kontrolle

Erdoğans Strategie, Angst zu säen und gleichzeitig die politische sowie soziale Kohäsion zu untergraben, hat sich als erschreckend effektiv erwiesen. Durch die gezielte Verfolgung prominenter Oppositionsfiguren und die geschickte Manipulation der öffentlichen Wahrnehmung über Korruptionsvorwürfe zerlegt das Regime systematisch die Säulen demokratischer Rechenschaftspflicht. Dieser Prozess geht weit über die individuelle Verfolgung hinaus: Er zielt darauf ab, die Gesellschaft so zu formen, dass Schweigen und Passivität zur Normalität im Umgang mit Ungerechtigkeit werden.

Der Ausweg aus diesem Klima der Angst erfordert mehr als punktuelle Proteste oder symbolischen Widerstand. Es bedarf einer vereinten Anstrengung seitens der Oppositionsführer und der Zivilgesellschaft, um Vertrauen, Solidarität und den Mut zum Handeln wiederherzustellen. Ohne diese kollektive Mobilisierung wird das Erdoğan-Regime weiterhin seine autoritären Taktiken verschärfen und die Türkei noch weiter von ihren demokratischen Idealen entfernen.

 

Yasemin Aydın ist eine deutsch-Türkische Sozialanthropologin und Sozialpsychologin.

Erstveröffentlichung: 14. January 2025  https://turkishminute.com/2025/01/14/opinion-politics-of-fear-and-social-fragmentation-targeting-turkeys-main-opposition-party/

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