Erhan Afyoncu, Präsident der staatlichen Nationalen Verteidigungsuniversität der Türkei, erklärte am 17. Februar in einem Live-Interview mit dem regierungsnahen Sender CNN Türk, dass die überwältigende Mehrheit des 2016 aus den türkischen Streitkräften entlassenen Personals keine direkte Verbindung zum Putschversuch vom 15. Juli 2016 hatte. Er enthüllte, dass diese Entlassungen weitgehend auf Geheimdienstberichten der türkischen Nationalen Geheimdienstorganisation (MİT) und der Nutzung eines Softwareprogramms namens „Fetömetre“ basierten. Dieses Programm wurde entwickelt, um mutmaßliche Mitglieder der Gülen-Bewegung zu identifizieren, einer Gruppe, die als kritisch gegenüber Präsident Recep Tayyip Erdoğan gilt. Afyoncus Aussage bestätigt die anhaltenden Befürchtungen, dass Tausende von Militärangehörigen nicht wegen einer nachgewiesenen Beteiligung am Putschversuch entlassen wurden, sondern infolge massenhafter Profilerstellung und algorithmischer Methoden.
Nach dem Putschversuch von 2016 verschärfte Erdoğan seinen Machtgriff und konsolidierte seine Kontrolle über die Judikative, Legislative und Exekutive. Nur wenige Stunden nach Beginn des Putsches leitete seine Regierung eine umfassende Säuberungsaktion ein und entfernte 4.156 Richter und Staatsanwälte aus ihren Ämtern – ein Hinweis darauf, dass diese Personen wahrscheinlich bereits zuvor auf schwarzen Listen standen. Ihre Positionen wurden rasch mit regierungstreuen Personen besetzt, von denen viele aus den Reihen der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) stammten.
Kritiker und Oppositionsgruppen haben sogar angedeutet, dass der Putschversuch selbst möglicherweise als Vorwand inszeniert wurde, um Erdoğans politische Gegner auszuschalten. Infolge der Repression wurden mehr als 130.000 Beschäftigte des öffentlichen Sektors sowie 24.706 Militärangehörige aus dem Dienst entlassen. Der Begriff „Fetömetre“, den Afyoncu in dem Interview erwähnt, leitet sich von einem abwertenden Ausdruck ab, den die Erdoğan-Regierung für die Gülen-Bewegung verwendet, die sie für den gescheiterten Putschversuch verantwortlich macht. Doch das Fetömetre-System ist eines der umstrittensten Instrumente der modernen Massenverfolgung geworden. Entwickelt von dem ultranationalistischen pensionierten Admiral Cihat Yaycı, handelt es sich um einen auf Excel basierenden Algorithmus, der angebliche Mitglieder der Gülen-Bewegung in den türkischen Streitkräften identifizieren sollte.
Wie jedoch im Bericht „Algorithmic Persecution in Turkey’s Post-Coup Crackdown: The Fetö-meter System“ von Dr. Emre Turkut und Ali Yıldız, veröffentlicht von der britischen Organisation Statewatch, aufgezeigt wird, ist das System nicht nur rechtlich und technisch fehlerhaft, sondern auch zutiefst ungerecht. Es führte zu massenhaften Entlassungen, willkürlichen Inhaftierungen und schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen.
Das „Fetömetre System“ basiert auf einem willkürlichen Punktesystem, das numerische Werte für mehr als 290 verschiedene Kriterien zuweist, von denen viele keinen konkreten oder logischen Bezug zu kriminellen Aktivitäten haben. Faktoren wie das Eröffnen eines Bankkontos, der Besuch bestimmter Universitäten oder das Vorhandensein eines Verwandten, der des Terrorismus beschuldigt wird, tragen zur Bewertung einer Person bei. Noch besorgniserregender ist, dass das System auch persönliche Überzeugungen und Lebensentscheidungen sanktioniert. So kann beispielsweise die Ablehnung von Abtreibung, die Auffassung, dass die Geburt eines behinderten Kindes natürlich sei, oder sogar das Festhalten an starken religiösen Ansichten außerhalb der staatlich akzeptierten Normen den „Risikowert“ einer Person erhöhen. Diese Kriterien spiegeln keine Sicherheitsmaßnahme wider, sondern vielmehr einen tiefgreifenden ideologischen Versuch, persönliche Moralvorstellungen zu kontrollieren.
Die technischen Mängel des “Fetömetre” machen deren Einsatz noch gefährlicher. Die Methodik hinter dem Algorithmus bleibt geheim, sodass die Zuverlässigkeit seiner Bewertungen nicht überprüft werden kann. Daten aus Finanztransaktionen, sozialen Medien, Familiengeschichten und sogar Gesundheitsakten werden ohne jede rechtliche Grundlage gesammelt. Der Bericht stellt fest, dass das System persönliche Informationen von mindestens 810.000 Personen verarbeitet hat – ohne ordnungsgemäßes Verfahren oder unabhängige Überprüfung. In vielen Fällen wurden Personen ohne bekannte Verbindungen zu politischen Bewegungen aufgrund algorithmischer Verdachtsmomente ins Visier genommen und mit schweren beruflichen und rechtlichen Konsequenzen konfrontiert.
Das “Fetömetre” bestraft nicht nur Einzelpersonen, sondern auch deren Familienmitglieder und das soziale Umfeld. Es reicht aus, einen Verwandten zu haben, der aus einem öffentlichen Amt entlassen wurde, an einer durch Regierungsdekret geschlossenen Universität studiert hat oder an eine mittlerweile verbotene Organisation gespendet hat, um verdächtigt zu werden. Dieser Schuld-durch-Assoziation-Ansatz stellt eine eklatante Verletzung grundlegender Rechtsprinzipien dar, darunter das Recht auf individuelle Verantwortung und die Unschuldsvermutung.
Der Statewatch-Bericht zieht zudem Parallelen zwischen dem “Fetömetre” und historischen diskriminierenden Systemen. Ähnlich wie der nationalsozialistische „Mischlingstest“, der Menschen nach ihrer ethnischen Herkunft kategorisierte, bewertet das “Fetömetre” keine individuellen Handlungen, sondern kriminalisiert Identitäten, Überzeugungen und Zugehörigkeiten. Dieser Ansatz verstößt nicht nur gegen die verfassungsmäßigen Schutzrechte der Türkei, sondern auch gegen internationale Menschenrechtsstandards.
Afyoncu fügte in dem Interview hinzu, dass einige Militärangehörige aufgrund von Kommunikationsverbindungen über öffentliche Telefonzellen entlassen wurden. Die sogenannten „Telefonzellen-Ermittlungen“ basieren auf Anrufprotokollen. Staatsanwälte behaupten, dass ein Mitglied der Gülen-Bewegung eine einzige Telefonzelle benutzt habe, um nacheinander all seine Kontakte anzurufen. Aufgrund dieser Annahme wird, wenn ein mutmaßliches Mitglied der Bewegung in den Anrufprotokollen auftaucht, vermutet, dass auch die davor oder danach angerufenen Nummern mit der Bewegung in Verbindung stehen. Die Behörden besitzen jedoch keine Inhalte der betreffenden Gespräche. Die Schuldvermutung basiert allein auf der Reihenfolge der Anrufe.
Afyoncu ist nicht nur irgendeine Figur in Erdoğans Regierung. Als treuer Gefolgsmann wurde er persönlich vom Präsidenten zum Leiter der Nationalen Verteidigungsuniversität (Milli Savunma Üniversitesi) ernannt, obwohl er keinen militärischen Hintergrund hat – eine ungewöhnliche Entscheidung für jemanden, der eine militärische Institution leitet.
Die Universität wurde 2016 unmittelbar nach dem umstrittenen Putschversuch von der Regierung gegründet, um die zuvor bestehenden Militärakademien (Harp Akademileri) zu ersetzen, die seit 1848 hochqualifizierte Offiziere für die osmanische und türkische Armee ausgebildet hatten. Ziel war es, ein zentrales System zu schaffen, das Offiziere ausbildet, die der Regierung loyal sind. Die Nationale Verteidigungsuniversität bildet sowohl Offiziere als auch Unteroffiziere für die Luftwaffe, Marine und Landstreitkräfte aus und untersteht direkt dem Verteidigungsministerium. Die Absolventen haben vielversprechende Karriereaussichten und können schnell in den Rängen aufsteigen, um Generäle und Admirale zu werden.
Die Universität ist Teil von Erdoğans umfassender Initiative, das türkische Militär in eine Truppe zu verwandeln, die nicht vorrangig den nationalen Sicherheitsinteressen der Türkei dient, sondern vielmehr dem Schutz seines Regimes und der Umsetzung seiner politischen Ziele.
Nordic Monitor berichtete zuvor, dass Afyoncu am 2. Juli 2024 den Sieg der türkischen Fußballmannschaft über Österreich in der UEFA-Europameisterschaft mit einer historischen Anspielung auf X kommentierte: „Wien ist 341 Jahre später gefallen“, schrieb er und zog eine Parallele zur gescheiterten osmanischen Belagerung Wiens im Jahr 1683.
Zusätzlich löste Afyoncus Aussage auf CNN Türk, „Ich bin ein nationalistischer Konservativer. Wenn man Historiker ist, wird man automatisch ein türkischer Nationalist. Der Beruf drängt einen in diese Richtung“, heftige Kritik in der akademischen Gemeinschaft aus. Viele Historiker und Wissenschaftler verurteilten seine Äußerungen in sozialen Medien als unvereinbar mit wissenschaftlichem Denken und Unabhängigkeit.
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