Ebru Kaymak
Türkische Mafiagruppen agieren längst über die Landesgrenzen hinaus – von Istanbul bis nach Europa. Gesuchte Kriminelle nutzen gefälschte Asylunterlagen, um in Deutschland und anderen EU-Staaten unterzutauchen und ihre Netzwerke auszubauen. Während echte politische Flüchtlinge jahrelang auf Schutz warten, profitieren Verbrecher von den langen Verfahren. Doch wie können Straftäter mit Vorstrafenregister überhaupt Asyl beantragen?
In den letzten Jahren ereignen sich in der Türkei immer häufiger Morddelikte, die von kriminellen Gruppierungen ausgeübt werden. In Auftrag erschießen sie Menschen in Nachtclubs und auf der Straße nieder. Hinzu kommen Drogen- und Waffenhandel. Über diese kriminellen Gruppierungen, die nun seit langer Zeit nicht nur in den Vierteln Istanbuls, sondern auch in anderen türkischen Städten agieren, wird in der Türkei in den Nachrichten namentlich berichtet.
Deutschland, Griechenland, Frankreich
Die organisierte Kriminalität überschreitet längst die türkischen Grenzen. Immer öfter berichtet man von türkischen Mafiagruppen in Europa, die umgebracht werden. 2023 ereignete sich ein solcher Fall in Griechenland. Sechs türkische Staatsangehörige wurden in einem Auto tot aufgefunden, in Frankreich traf es zwei weitere. Im Mai 2024 nahm die italienische Polizei in Rimini den berüchtigten Bandenchef Barış Boyun mit 17 Komplizen, die ebenfalls türkische Staatsangehörige sind, fest. Auch Deutschland bleibt nicht verschont: Im Januar wurde ein 25-jähriger Türke tot aufgefunden – er war in der Türkei zu 30 Jahren Haft verurteilt worden und hatte sich nach Deutschland als Flüchtling abgesetzt.
Die entscheidende Frage ist: Wie können Kriminelle mit einem erheblichen Vorstrafenregister nach Deutschland einreisen und Asyl beantragen?
Seit Jahrzehnten werden Kurden in der Türkei systematisch unterdrückt und verdrängt. Nach dem Putschversuch im Jahr 2016 begann eine neue Welle der Verfolgung, die sich nun gegen Mitglieder der Gülen-Bewegung* richtet. Viele Betroffene sahen sich gezwungen, das Land zu verlassen, um Repressionen zu entkommen. Doch diese Lage wird auch von Kriminellen missbraucht: Sie fliehen aus der Türkei, geben sich in europäischen Ländern als politische Flüchtlinge aus und beantragen Asyl. Ob diese Menschen tatsächlich politisch verfolgt werden oder aus anderen Gründen fliehen, lässt sich in einigen Fällen bereits mit einer simplen Google-Suche herausfinden.
Kriminelle machen sich diese systematischen politischen Verfolgungen der türkischen Regierung zum Nutze, indem sie Fake-News über die angebliche Zugehörigkeit zu diesen zwei politisch verfolgten Gruppen generieren lassen:
In unseriösen türkischen Online-Zeitungen tauchen dutzende Meldungen mit Titeln wie „FETÖ Mitglied gesucht“ oder „FETÖ Mitglied ist untergetaucht“ auf. FETÖ ist die Bezeichnung, die von der türkischen Regierung für die politisch verfolgte Gülen-Bewegung* verwendet wird, um sie zu kriminalisieren.
Auf Webseiten wie kolayposta.com finden sich eine Vielzahl solcher Nachrichten (Bild unten). Inhaltlich sind alle nahezu identisch: Dieselbe Wortwahl, gleiche Sätze, selbst die Zeichensetzungsfehler und Lücken sind unverändert. Ähnlich verhält es sich mit Berichten über angebliche „PKK-HDP Unterstützer“. Auch diese Nachrichten sind alle inhaltlich fast gleich.

Bild links: Webseite portalhaber.com Artikel über vermeintliche PKK-HDP Unterstützer. Bild rechts: Webseite kolayposta.com Artikel über vermeintliche FETÖ Mitglieder.
Und es funktioniert – Obwohl man mit einer einfachen Google-Suche der Namen recht schnell wahre Zeitungsberichte findet, in denen sie als Straftäter, Anführer einer kriminellen Organisation, illegaler Waffenbesitz oder Drogenhandel erwähnt werden, scheinen die europäischen, vor allem die deutschen Behörden dies zu vernachlässigen. Eine ideale Grundlage, Deutschland zum Zufluchtsort für Kriminelle zu machen.

Bild links: Bericht auf der Webseite kolayposta.com über Cihan Meşeci als vermeintlicher FETÖ Anhänger.
Bild rechts: Bericht auf der Webseite firatnews.com über kriminelle Mafiagruppen in Istanbul. Am Ende des Berichts werden festgestellte Gruppierungen/Namen und ihre Aktivitäten in Gazi Mahallesi (ein Viertel in Istanbul) aufgelistet. Cihan Meşeci wird Wucherei, Wechsel- und Schuldscheinbetrug und Mord zugeschrieben.
Gefälschte Dokumente für Asylantrag
Aber nicht nur die Nachrichten auf fragwürdigen Online-Portalen, sondern auch gefälschte Dokumente im türkischen digitalen Justizregister werden für die Asylanträge verwendet:
In Nürnberg wurde 2022 ein ehemaliger türkischer Oberstaatsanwalt vor dem Gerichtsaal festgenommen, als Zeuge in einem Prozess, der eine ganz eigene Wendung nahm. Angeklagt war ein 29-jähriger Türke, der über die Ukraine nach Deutschland geflohen war und im Oktober 2022 in Nürnberg auf zwei Freunde schoss – einer starb, der andere überlebte verletzt. Der Oberstaatsanwalt wurde als Zeuge des Täters eingeladen. Doch nach seiner Aussage nahm ihn die Polizei fest. Laut einem BR-Bericht** hatte er UYAP-Einträge (das digitale Justizsystem der Türkei) manipuliert und in diesem System „Personen als Anhänger der von der türkischen Regierung verfolgten Gülen Bewegung*“ fälschlicherweise registriert.
Lange Asylverfahren als Schlupfloch für Kriminelle
Während politische Flüchtlinge jahrelang auf eine Entscheidung ihres Asylantrags warten, nutzen Kriminelle die langwierigen Verfahren gezielt aus. Seit dem Putschversuch 2016 werden die Anhänger der Gülen-Bewegung in der Türkei systematisch verfolgt, verhaftet und aus dem Berufsleben gedrängt- für viele bleibt nur die Flucht nach Europa. Die Verfolgung der Kurden in der Türkei ist so alt wie die türkische Republik selbst. 2024 wurden insgesamt 31.056 Asylanträge von türkischen Staatsbürgern gestellt.
„Mafiamitglieder verlassen die Türkei auf illegalen Wegen, nachdem gegen sie Haftbefehle wegen Mordes, Drogenhandels oder Geldwäsche erlassen wurden“, erklärt Cevheri Güven der Deutschen Bold.
Cevheri Güven ist Investigativ-Journalist im Exil und bringt seit Jahren die Machenschaften der türkischen Mafiagruppen und ihre Netzwerke und sie an Tageslicht. In Europa beantragten sie dann Asyl, um einer Strafverfolgung zu entgehen. Besonders attraktiv seien Länder mit langwierigen Verfahren, also vor allem auch Deutschland, da sich die Täter so Zeit verschaffen könnten. „In der Türkei ist es fast schon Tradition, alle fünf bis zehn Jahre eine Teil- oder Generalamnestie für Straftaten – politische Verbrechen ausgenommen – zu gewähren“, sagt er. Wer es schaffe, lange genug im Ausland zu bleiben, könne darauf hoffen, dass die Strafen für ihre tatsächlichen Verbrechen in der Türkei irgendwann aufgehoben werden.
Das europäische Asylsystem bietet Kriminellen zudem einen gewissen Schutz. Während des laufenden Verfahrens können Asylbewerber nicht abgeschoben werden – selbst wenn gegen sie ein Red Notice von Interpol oder ein offizielles Auslieferungsgesuch der Türkei vorliegt. „Da die Türkei das Red Notice-Verfahren aus politischen Gründen missbraucht, nehmen europäische Länder diese Gesuche oft nicht ernst“, so Güven. Diese Lücke im System werde auch von der Mafia ausgenutzt. Während sie offiziell auf eine Asylentscheidung warten, steuern viele weiterhin ihre kriminellen Netzwerke – von Drogenhandel bis Geldwäsche – aus Europa.
Ein bekanntes Beispiel ist Barış Boyun, ein berüchtigter Bandenchef, der 2024 in Italien verhaftet wurde. In der Türkei wegen Mordes gesucht, beantragte er in Italien Asyl – mit der Begründung, aufgrund seiner kurdischen Herkunft verfolgt zu werden. Während er dort auf seinen Antrag wartete, baute er laut Güven ein neues kriminelles Netzwerk mit Verbindungen in die Niederlande, die Schweiz und Deutschland auf. Fälle wie dieser zeigen, wie sehr das europäische Asylsystem für falsche Zwecke missbraucht wird – während echte Flüchtlinge oft jahrelang auf Schutz hoffen müssen.
Diese Recherche macht eines klar: Das Asylverfahren ist vieles, aber nicht effizient. Das Asylverfahren sollte zweierlei leisten: Es muss echten politischen Flüchtlingen schnellen Schutz gewähren und gleichzeitig verhindern, dass Kriminelle das System ausnutzen. Doch aktuell dauert es oft Jahre, bis eine Entscheidung getroffen wird – eine Zeitspanne, die gesuchte Verbrecher gezielt nutzen, um sich einer Strafverfolgung zu entziehen und ihre Netzwerke auszubauen. Dabei wäre es mit einer gründlichen Überprüfung oft leicht festzustellen, wer tatsächlich verfolgt wird und wer sich hinter falschen Identitäten verbirgt. Schon eine Google-Suche liefert in vielen Fällen Hinweise auf Vorstrafen und Verbindungen zur organisierten Kriminalität. Es braucht daher nicht nur schnellere, sondern auch präzisere Asylverfahren, um Missbrauch zu verhindern und das System vor kriminellen Strukturen zu schützen – ohne dabei die Schutzbedürftigen im Stich zu lassen.
*Zur Gülen-Bewegung:
Die Gülen-Bewegung, die sich auf die Lehren des islamischen Gelehrten Fethullah Gülen stützt, und sich selbst als Hizmet-Bewegung (türkisch: Dienst) bezeichnet, wird von der türkischen Erdoğan-Regierung beschuldigt, den gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 angeführt zu haben und ist einer massiven Hexenjagd ausgesetzt. Während Ankara die Bewegung als „terroristische Organisation“ einstuft, weist diese jede Beteiligung am Putsch entschieden zurück und wird von keinem westlichen Land als terroristisch eingestuft.
**BR-Bericht: 09.02.2024, https://www.br.de/nachrichten/bayern/nuernberger-suedstadt-mord-zeuge-nach-aussage-festgenommen,U3imK6A
No comments