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Ein neues Gutachten der Vereinten Nationen stellt die offizielle türkische Darstellung des gescheiterten Putschversuchs vom 15. Juli 2016 infrage – und dürfte weitreichende Konsequenzen für das internationale Ansehen der Türkei haben. Der UN-Menschenrechtsrat, genauer gesagt die Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen, hat in einem am 29. November 2024 veröffentlichten Gutachten (Opinion No. 33/2024) festgestellt, dass die Verhaftung und Verurteilung des früheren türkischen Luftwaffenkommandeurs Akın Öztürk nicht nur rechtswidrig, sondern auch politischmotiviert war.
Das Urteil kommt einem diplomatischen Paukenschlag gleich: Öztürk wurde von der türkischen Regierung als der „Nummer eins“ des angeblichen Putschkomplotts dargestellt und in einem Massenprozess zu 141-facher lebenslanger Haft verurteilt. Die UN-Experten sehen hingegen keinerlei Beweise für seine Beteiligung an einem Putschversuch – im Gegenteil: Seine Verhaftung und Verurteilung erfolgten unter rechtsstaatlich unhaltbaren Bedingungen, sein Prozess war politisch gesteuert, seine Haft eine Verletzung der Menschenrechte.
Die Entscheidung stellt nicht nur die persönliche Schuld Öztürks infrage, sondern untergräbt die gesamte juristische Aufarbeitung des Putschversuchs in der Türkei. Sollte sich die Argumentation der UN durchsetzen, könnte dies die Grundlage für zahlreiche internationale Klagen und diplomatische Konsequenzen legen.
Die Erzählung von der „Nummer eins des Putsches“ bricht zusammen
Die türkische Regierung stellte Akın Öztürk als zentralen Drahtzieher des Putsches dar. Der ehemalige Kommandeur der türkischen Luftwaffe wurde 2016 verhaftet und in einem Massenprozess im Jahr 2019 schuldig gesprochen. Doch die UN-Experten haben keinen einzigen stichhaltigen Beweis für seine Beteiligung gefunden.
Laut dem Gutachten:
– hatte Öztürk am 15. Juli 2016 keine operative Befehlsgewalt mehr über das Militär – er war bereits seit einem Jahr in den Ruhestand versetzt worden.
– befand er sich am Tag des Putsches auf Urlaub in Izmir und kehrte nach Ankara nur wegen einer familiären Angelegenheit zurück.
– ging er auf Anweisung des Generalstabschefs zum Luftwaffenstützpunkt Akıncı, um dort zu helfen, die Situation unter Kontrolle zu bringen.
– wurde er bei seiner Ankunft von maskierten Soldaten als Geisel genommen.
– wurde sein Name schon Stunden später in staatlichen Medien als „Hauptverantwortlicher“ genannt, noch bevor er offiziell festgenommen wurde.
Das Gutachten kommt zu dem Schluss, dass seine Verhaftung unrechtmäßig war, sein Prozess keinerlei rechtsstaatlichen Standards entsprach und seine Strafe eine klare Menschenrechtsverletzung darstellt.
Ein Putschversuch als Vorwand für eine systematische Verfolgung
Seit dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli 2016 hat die türkische Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan diesen Vorfall genutzt, um einen beispiellosen Umbau des Staates voranzutreiben. Die Regierung machte die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen für den Umsturzversuch verantwortlich und begann eine massive Repressionswelle:
– Über 150.000 Menschen wurden aus dem Staatsdienst entlassen, darunter Richter, Lehrer, Offiziere und Beamte.
– Mehr als 100.000 Personen wurden zeitweise inhaftiert, oft ohne konkreten Tatnachweis.
– Zahlreiche unabhängige Medien wurden geschlossen, kritische Journalisten verfolgt.
– Das Justizsystem wurde weitgehend gleichgeschaltet, regierungskritische Richter und Staatsanwälte durch regimetreue Funktionäre ersetzt.
Internationale Menschenrechtsorganisationen kritisierten die türkische Justiz für unfaire Massenprozesse, systematische Folter und den Einsatz von Justiz als politisches Unterdrückungsinstrument. Bislang konnten diese Vorwürfe jedoch von der türkischen Regierung als „ausländische Einmischung“ abgetan werden. Mit dem UN-Gutachten erhält diese Kritik nun ein völkerrechtliches Fundament.
Willkürliche Justiz und systematische Folter
Noch gravierender als die falschen Anschuldigungen ist laut den UN-Experten der Zustand der türkischen Justiz. Die Arbeitsgruppe führt in ihrem Bericht detailliert auf, wie türkische Gerichte systematisch gegen internationales Recht verstießen:
– Öztürk wurde ohne Haftbefehl festgenommen.
– Er wurde in der Untersuchungshaft schwer gefoltert, unter anderem durch Schläge, Säureverbrennungen und Schlafentzug.
– Er hatte keinen Zugang zu einem unabhängigen Anwalt, sondern wurde von einem regierungstreuen Pflichtverteidiger vertreten.
– Die Richter ignorierten entlastende Beweise, darunter Videoaufnahmen, die seine Unschuld belegen.
– Das Urteil gegen ihn war ein fast wortgleiches Copy-Paste-Dokument der Anklageschrift.
Der UN-Bericht bestätigt damit, was Menschenrechtsorganisationen bereits seit Jahren anprangern: Die türkischen Gerichte haben den Putschversuch genutzt, um tausende Menschen in Scheinprozessen abzuurteilen – unabhängig von ihrer tatsächlichen Schuld oder Unschuld.
Was bedeutet das UN-Gutachten für die Türkei?
Das Urteil setzt die türkische Regierung unter Druck. Die UN fordert die sofortige Freilassung von Akın Öztürk, eine unabhängige Untersuchung seiner Inhaftierung sowie eine Entschädigung für seine rechtswidrige Haft.
Für die Türkei gibt es nun zwei schlechte Optionen:
- Sie könnte der UN-Forderung nachgeben und Öztürk freilassen – was den gesamten Justizapparat der Putschprozesse infrage stellen und eine Flut neuer Verfahren nach sich ziehen könnte.
- Sie könnte das Gutachten ignorieren – was die internationale Isolation der Türkei weiter verschärfen und Sanktionen gegen beteiligte Richter und Politiker wahrscheinlicher machen würde.
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