Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) sowie das Turkey Human Rights Litigation Support Project haben am Donnerstag die Festnahme von Mehmet Pehlivan, dem Anwalt des inhaftierten Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu, scharf kritisiert. Sie bezeichnen den Vorgang als Vergeltungsmaßnahme, die das Recht auf ein faires Verfahren und die Unabhängigkeit der Anwaltschaft in der Türkei bedrohe.
Pehlivan wurde in der vergangenen Woche vom 9. Strafgerichtshof für Frieden in Istanbul wegen des Verdachts auf Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung verhaftet. Er war zuvor im Zusammenhang mit den Korruptionsermittlungen befragt worden, die zur Inhaftierung İmamoğlus im März geführt hatten. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, durch seine anwaltliche Tätigkeit ein angebliches „kriminelles Netzwerk“ unterstützt zu haben – ein Vorwurf, den Pehlivan entschieden zurückweist.
„Es ist alarmierend, dass die Erdoğan-Regierung nicht nur den wichtigsten Oppositionskandidaten, sondern auch dessen Verteidiger ins Visier nimmt“, erklärte Hugh Williamson, Direktor für Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch. „Die Inhaftierung von Mehmet Pehlivan ist ein Missbrauch staatlicher Macht aus Vergeltung und er muss umgehend freigelassen werden.“
Die Anklage gegen Pehlivan stützt sich Berichten zufolge ausschließlich auf vage Aussagen zweier Tatverdächtiger, die im Rahmen des türkischen „Effektive Reue“-Gesetzes mit den Behörden kooperieren und dadurch auf Strafminderung hoffen. Die Staatsanwaltschaft behauptet, Pehlivan sei Teil eines organisierten Netzwerks gewesen, das gezielt Verteidiger ernannt, auf vertrauliche Unterlagen zugegriffen und Zeugen beeinflusst habe. Menschenrechtsgruppen halten diese Vorwürfe für unbegründet und politisch motiviert.
Im Februar hatte Pehlivan öffentlich die staatlichen Bemühungen kritisiert, İmamoğlus Universitätsabschluss abzuerkennen – ein aus seiner Sicht politisch motivierter Versuch, den Bürgermeister von einer möglichen Präsidentschaftskandidatur auszuschließen. Das Diplom wurde am 18. März offiziell für ungültig erklärt.
Ekrem İmamoğlu, der als einer der aussichtsreichsten Herausforderer von Präsident Recep Tayyip Erdoğan bei den Präsidentschaftswahlen 2028 gilt, wurde am 23. März wegen Korruptionsvorwürfen festgenommen. Seine Verhaftung löste eine breit angelegte Ermittlungswelle aus, von der seither Dutzende Oppositionspolitiker und städtische Funktionäre betroffen sind.
Kurz nach İmamoğlus Verhaftung wurde auch Pehlivan kurzzeitig unter dem Verdacht der Geldwäsche festgehalten, dann aber unter einem Ausreiseverbot freigelassen. Seine erneute Festnahme erfolgte, nachdem er sich weigerte, ohne die gesetzlich vorgeschriebene Genehmigung des Justizministeriums auszusagen – eine Voraussetzung für Ermittlungen gegen Anwälte in der Türkei. Dennoch folgte das Gericht dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf Untersuchungshaft.
Mindestens drei weitere Anwältinnen und Anwälte, die İmamoğlu oder dessen Umfeld vertreten, werden ebenfalls wegen angeblicher Verletzung des Anwaltsgeheimnisses oder Einflussnahme auf das Verfahren untersucht.
„Die strafrechtliche Verfolgung von Rechtsanwälten wie Mehmet Pehlivan, die Mandanten mit politisch motivierten Vorwürfen vertreten, ist Teil eines umfassenderen Musters von Demokratieabbau und Missachtung des Rechtsstaats in der Türkei“, sagte Ayşe Bingöl Demir vom Turkey Litigation Support Project.
In den vergangenen zehn Jahren wurden in der Türkei Hunderte Anwältinnen und Anwälte strafrechtlich verfolgt und inhaftiert, weil sie politische Gegner der Regierung oder nicht regimetreue Bürger verteidigten.
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