“Entweder sie sterben – oder wir”: Die Mobilisierung religiöser Empörung, Entmenschlichung und narzisstischer Autoritarismus im heutigen Erdoğan-Regime

0

Vom Karikaturen-Skandal um Leman bis zur Verhaftung von İmamoğlu – wie das systematische „Othering“ Andersdenkender die türkische Gesellschaft an den Abgrund führt.

Yasemin Aydın

Die Sprechchöre vor dem Büro des Satiremagazins Leman in Istanbul – „Entweder sie sterben, oder wir“ – sind kein zufälliger Ausbruch religiöser Wut. Sie sind das Ergebnis eines systematischen Prozesses, der die türkische Gesellschaft über Jahre hinweg tiefgreifend verändert hat: die gezielte Politisierung religiöser Identität, die strategische Konstruktion des „Anderen“ und die Normalisierung von Entmenschlichung unter einem zunehmend narzisstischen autoritären Regime.

Die Angriffe auf Leman, eines der traditionsreichsten Satiremagazine des Landes, machen deutlich, wie weit die gesellschaftliche Bereitschaft zu ideologisch motivierter Gewalt mittlerweile fortgeschritten ist. Was als friedliche Karikatur mit Bezug auf Gaza begann, eskalierte binnen Stunden zu Massenprotesten, öffentlichen Morddrohungen und strafrechtlichen Ermittlungen.

Gleichzeitig zeigt die Inhaftierung des demokratisch gewählten Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu, wie jede Form von Dissens – ob künstlerisch, politisch oder symbolisch – inzwischen als Bedrohung für das nationale Überleben inszeniert wird.

Diese Entwicklung ist kein Zufall. Sie folgt einem gezielten Identitätsnarrativ, das auf Angst, kollektiver Erinnerungskontrolle und den psychologischen Dynamiken autoritärer Herrschaft beruht.

Der Fall Leman: Inszenierte Empörung und symbolische Gewalt

Die Karikatur von Leman, die eine friedliche Botschaft zum Gazakrieg transportierte, wurde von regierungsnahen Medien binnen Stunden zum „Angriff auf den Islam“ und zur „Beleidigung des Heiligen“ umgedeutet. Verhaftungen folgten. Die Straßen von Beyoğlu füllten sich mit aufgebrachten Menschen, die Rache forderten und offen zum Töten aufriefen.

Sozialpsychologen wie Henri Tajfel haben seit Langem aufgezeigt, wie Gruppenzugehörigkeit, wenn sie politisch instrumentalisiert wird, kollektive Bedrohungsgefühle massiv verstärkt. Selbst symbolische Akte – ein Cartoon, eine Rede, politische Kritik – erscheinen dann als existenzielle Angriffe.

In Erdoğans Türkei wird diese Dynamik systematisch befeuert. Der Staat perfektioniert das, was Pierre Bourdieu als symbolische Gewalt beschreibt: die Kontrolle über Bedeutungen, Deutungsmuster und die Konstruktion gesellschaftlich akzeptabler Identität. In diesem Klima wird Satire zur Gotteslästerung, Dissens zum Verrat, und öffentlicher Raum zum Schauplatz moralischer Panik.

Madımak reloaded: Erinnerungspolitik, Othering und Gewaltzyklen

Die Eskalation rund um Leman weckt schmerzhafte Erinnerungen an die unbewältigte Vergangenheit der Türkei – insbesondere an das Massaker von Madımak 1993, bei dem 33 Intellektuelle, KünstlerInnen und Dichter – viele von ihnen Angehörige der alevitischen Minderheit – von einem religiös aufgestachelten Mob bei lebendigem Leib verbrannt wurden.

Wie Maurice Halbwachs in seiner Theorie der kollektiven Erinnerung beschreibt, neigen Gesellschaften, die historische Traumata nicht aufarbeiten, dazu, diese Dynamiken zyklisch zu wiederholen. Die unbewältigten Wunden der Türkei – von Madımak über die Hexenjagd nach dem Putschversuch 2016 bis heute – reproduzieren sich in jeder neuen Krise, vertiefen soziale Gräben und legitimieren Ausgrenzung.

Immer wieder greift dasselbe Muster: Wer als „Anderer“ markiert wird – ob alevitisch, säkular, gülen-nah oder systemkritisch – gilt als unrein, gefährlich, nicht zugehörig.

Entmenschlichung als Herrschaftsinstrument: Vom Gülen-Narrativ zu İmamoğlu

Der Ursprung dieser gefährlichen Entmenschlichungsspirale liegt in einem entscheidenden Wendepunkt: dem Korruptionsskandal vom Dezember 2013. Als damalige Ermittlungen massive Bestechungsnetzwerke aufdeckten, die Minister, Geschäftsleute und sogar Erdoğans eigenes familiäres Umfeld betrafen, stand das Regime am Abgrund.

Statt Aufklärung wählte Erdoğan die Konfrontation. Die Gülen-Bewegung, bis dahin einflussreich, aber unabhängig und bedacht nicht im Konfrontationskurs mit der politischen Macht zu sein, wurde zum Sündenbock erklärt. Binnen kürzester Zeit folgte eine orchestrierte Entmenschlichungskampagne: Gülen-Anhänger galten als „Verräter“, „Virus“ oder „Terroristen“ – nicht wegen tatsächlicher extremistischer Aktivitäten, sondern weil sie sich dem Machtanspruch widersetzten.

Der Staat inszenierte nach dem Vorbild von Stanley Cohen eine gezielte Moralisierung von Panik: künstlich aufgebauschte Bedrohungen, konstruierte Feindbilder, Mobilisierung gegen „innere Gefahren“.

Was mit der Gülen-Bewegung begann, setzt sich heute fort – gegen säkulare Intellektuelle, Künstler, oppositionelle Bürgermeister wie İmamoğlu, kritische Journalisten. Die Etiketten wechseln – „Terrorist“, „Blasphemiker“, „Feind des Islams“ – das strukturelle Prinzip bleibt: Othering, Empörungsproduktion, Repressionslegitimation.

Religiöse Identität als politische Waffe: Erdoğans narzisstischer Autoritarismus

Im Zentrum dieses gefährlichen Klimas steht Erdoğan selbst. Seine zunehmend personalisierte Herrschaft folgt dem Muster des narzisstischen Autoritarismus, das Politikwissenschaftler wie Post, Robins oder Watts beschreiben: überhöhtes Selbstbild, Unfehlbarkeitsanspruch, Verschmelzung persönlicher Interessen mit nationaler Identität.

In der Türkei wird Religion nicht mehr als privates Glaubensbekenntnis verstanden, sondern als politisches Bindemittel, das Loyalität gegenüber Glaube, Nation und Führer miteinander verknüpft. Kritik an einem Teil wird als Angriff auf das Ganze gewertet.

Erdoğans Instrumentalisierung sunnitisch-islamischer Symbolik – von der Umwidmung der Hagia Sophia bis zu staatlich geförderten Religionskampagnen – folgt dem von Pippa Norris beschriebenen Mechanismus des kulturellen Backlashs: autoritäre Eliten schüren religiöse Ängste, um Pluralismus zu bekämpfen und Macht abzusichern.

Der Karikaturen-Skandal um Leman, die Kriminalisierung von İmamoğlu – sie sind die sichtbaren Symptome dieser Strategie: Dissens wird zur Gotteslästerung erklärt, Satire kriminalisiert, das öffentliche Bewusstsein auf Ausgrenzung und Aggression konditioniert.

Fazit: Gesellschaft am Abgrund – gefährliche Kontinuität seit 2013

Die Türkei ist heute ein Lehrbuchbeispiel für das, was Martha Nussbaum als Politik der Angst bezeichnet: eine Gesellschaft, die durch manipulierte Identitätsnarrative und autoritäre Eskalation schrittweise in Gewaltbereitschaft und demokratischen Zerfall geführt wird.

Doch diese Krise begann nicht mit Karikaturen oder Protesten. Ihr Fundament wurde bereits nach dem Korruptionsskandal 2013 gelegt, als das Erdoğan-Regime, konfrontiert mit interner Kritik und juristischer Aufarbeitung, sich für die Strategie der Entmenschlichung entschied: Feindbilder statt Verantwortung, Spaltung statt Aufklärung.

Die Dämonisierung der Gülen-Bewegung war kein Ausnahmefall, sondern das autoritäre Testlabor. Heute trifft dieselbe Dynamik säkulare Intellektuelle, Künstler, Oppositionspolitiker – alle, die sich der totalen Loyalität verweigern.

Die Sprechchöre vor Leman, die Inhaftierung von İmamoğlu, die Normalisierung von Hass – sie sind keine Zufälle. Sie zeigen eine Gesellschaft im Strudel zunehmender Polarisierung, gewollter Eskalation und institutionalisierter Ausgrenzung.

Doch Geschichte ist kein Automatismus. Gesellschaften können Gewaltzyklen unterbrechen, Entmenschlichung zurückdrängen, Pluralismus wiederbeleben. Die Zukunft der Türkei entscheidet sich daran, ob diese Muster erkannt und aktiv aufgebrochen werden – bevor der Abgrund unumkehrbar wird.

Die Warnsignale sind offensichtlich. Wer schweigt, normalisiert oder mitläuft, beschleunigt das Unheil.

 

Yasemin Aydın analysiert als Sozialanthropologin und Sozialpsychologin die Schnittstellen von kollektiver Identität, autoritären Herrschaftsmechanismen, religiöser Mobilisierung und gesellschaftlicher Polarisierung in Transformationsgesellschaften.

No comments