Yasemin Aydın
Die Entwicklungen der vergangenen Monate in der Türkei – die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu, die Suspendierung dutzender Oppositionsbürgermeister und die gewaltsame Einsetzung eines staatlich bestellten Zwangsverwalters in die Istanbuler CHP-Zentrale – markieren mehr als nur eine politische Krise. Sie offenbaren eine tiefere Bruchlinie: die Erosion der gesellschaftlichen Fähigkeit, sich als politisches Kollektiv zu behaupten.
Ekrem İmamoğlu ist nicht irgendein Politiker. Er ist der stärkste Präsidentschaftsrivale Recep Tayyip Erdoğans und liegt in Umfragen regelmäßig vor ihm. Seine Partei, die CHP, ist die größte Oppositionskraft des Landes und die einzige, die landesweit eine ernsthafte Herausforderung für das Regierungslager darstellen kann. Dass İmamoğlu und seine Partei nun ins Visier geraten sind, ist daher nicht bloß ein taktischer Schachzug, sondern ein struktureller Versuch, den politischen Wettbewerb als solchen auszuschalten. Zugleich hat dieses Vorgehen eine Vorgeschichte: Das Instrument der Zwangsverwaltung (kayyum) wird seit fast einem Jahrzehnt systematisch eingesetzt, um gewählte Bürgermeister der pro-kurdischen Partei abzusetzen und durch staatliche Treuhänder zu ersetzen. Was dort erprobt wurde, richtet sich nun gegen die Partei, die nahezu die Hälfte der Wählerschaft repräsentiert.
Wie Hannah Arendt hervorhob, verwirklicht sich politische Freiheit in kollektivem Handeln – wenn Menschen zusammenkommen, um eine gemeinsame Welt zu konstituieren, statt lediglich Autorität zu erdulden. Genau diesem Potenzial ist der Kampf angesagt und sie wird Schritt für Schritt ausgehöhlt. Für Studierende und junge Generationen, die im Zentrum der Proteste stehen, ist dieser Verlust besonders spürbar. Ihre Teilnahme ist nicht nur Ausdruck von Empörung über wirtschaftlichen Niedergang oder Misswirtschaft, sondern vor allem ein Zeichen tiefer Zukunftsangst. Protest wird so zu einer Praxis der zeitlichen Rückeroberung: dem Beharren darauf, dass die Zukunft noch verhandelbar ist.

Das Regierungslager hingegen deutet die Proteste aus einer gänzlich anderen Perspektive. Für sie sind sie nichts weiter als ein taktisches Manöver der Opposition, um von angeblicher Korruption abzulenken. Diese Deutung entspricht dem, was James C. Scott als „öffentliches Transkript“ der Herrschaft beschreibt: ein Narrativ, in dem Macht versucht, Widerstand unlesbar zu machen, ihn seiner moralischen Bedeutung zu berauben und Bürger auf Schachfiguren elitärer Machtkämpfe zu reduzieren. Doch es geht nicht nur darum, die Opposition als „staatsfremd“ zu brandmarken. Das Muster folgt einer gefährlicheren Logik, die in autoritären Kontexten immer wieder auftaucht: der Entmenschlichung. Gegner werden nicht länger als Mitbürger behandelt, die politische Auseinandersetzung führen; sie werden als Feinde des Staates konstruiert, ihrer Legitimität beraubt und zu Hindernissen degradiert, die beseitigt werden müssen. Wie Zygmunt Bauman argumentierte, verwandelt Entmenschlichung politische Gegner in Verwaltungsprobleme – in Objekte, die man managen kann, statt in Subjekte mit Rechten.
Diese Logik setzt fort, was seit 2016 institutionalisiert wurde: Zivilgesellschaft, Journalistinnen und Journalisten sowie die von Gülen inspirierte Bewegung wurden systematisch als existenzielle Bedrohungen definiert. Das gleiche Repertoire – Kriminalisierung, Zwangsverwaltungen, Massenverhaftungen – richtet sich nun gegen die CHP. Anthropologisch betrachtet offenbart sich hier, was Erich Fromm als das Feindbedürfnis des autoritären Charakters beschrieben hat: Macht erhält sich durch die ständige Produktion von Figuren, die Gefahr, Unordnung und „Un-Türkischsein“ verkörpern.
Und doch haben autoritäre Versuche, Dissens zu spalten und zu disziplinieren, oft den unbeabsichtigten Effekt, Solidarität von unten zu festigen. Sitzblockaden, Mahnwachen und die symbolische Verteidigung von Parteigebäuden trotz Polizeigewalt sind nicht bloß taktische Reaktionen. Sie sind Formen einer politischen Ritualisierung. Sie erfüllen eine ähnliche Funktion wie das, was Maurice Halbwachs im Zusammenhang mit dem kollektiven Gedächtnis beschrieben hat: Praktiken, durch die Gruppen Zugehörigkeit bekräftigen, gemeinsame Verwundbarkeit erzählen und Handlungsfähigkeit unter Bedingungen der Ausgrenzung neu konstruieren.
Die eigentlichen Risiken gehen daher weit über das organisatorische Überleben der CHP hinaus. Angegriffen wird die Fähigkeit der türkischen Gesellschaft, sich selbst als politisches Kollektiv zu konstituieren. Der Ausgang dieser Auseinandersetzung wird entscheiden, ob das Land weiter in Richtung einer „Republik der Zwangsverwalter“ abgleitet – in der Institutionen ihrer demokratischen Substanz beraubt und Bürger auf Objekte der Kontrolle reduziert werden – oder ob die geteilte Erfahrung von Repression neue Formen kollektiver Ermächtigung hervorbringt. Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber es ist schwierig angesichts des jahrelangen Habitusses der CHP die Hoffnung aufrecht zu erhalten.
Für die internationale Gemeinschaft sollte eines klar sein: Die Entwicklungen in der Türkei lassen sich nicht auf den Erfolg oder Misserfolg einer Partei reduzieren. Es geht um die Frage, ob Bürgerinnen und Bürger die Fähigkeit behalten, sich als politische Gemeinschaft zu entwerfen und zu behaupten. In diesem Sinne ist die Türkei heute nicht nur mit einer nationalen Krise konfrontiert – sie ist auch ein Testfall dafür, wie Gesellschaften im 21. Jahrhundert dem autoritären systematischen Angriff auf kollektive Handlungsfähigkeit, durch Entfremdung wie auch durch Entmenschlichung, begegnen.

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